Klare Unterschiede: Frauen und Männer empfinden Schmerzen nicht nur anders, auch ihre neurophysiologische Schmerzverarbeitung zeigt deutliche Unterschiede, wie eine Studie enthüllt. Im Rückenmark von Männern fördert demnach ein spezieller Botenstoff die Übererregung von Neuronen durch Schmerzreize. Bei Frauen fehlt diese Reaktion, wie Forschende im Fachjournal „Brain“ berichtet. Die Schmerzempfindlichkeit von Frauen wird demnach über andere Mechanismen kontrolliert.
Ob Migräne, Rückenschmerzen oder Fibromyalgie: Millionen Menschen weltweit sind von chronischen Schmerzen betroffen, darunter deutlich mehr Frauen als Männer. Während dies früher gerne mit der vermeintlich labileren Psyche des weiblichen Geschlechts begründet wurde, mehren sich heute Indizien für physiologische, unter anderem auf den Geschlechtshormonen beruhende Unterschiede in der Schmerzverarbeitung.
Doch welche Mechanismen dahinter stecken, ist unklar – auch, weil man nicht danach gesucht hat: „Jahrzehntelang wurde angenommen, dass die molekularen Mechanismen, die die neuronale Erregbarkeit und das Verhalten des Nervensystems regulieren, bei Männern und Frauen dieselben sind“, erklären Annemarie Dedek von der Carleton University in Kanada und ihre Kollegen. Unter anderem deshalb wurden in der Schmerzforschung die meisten Studien nur an männlichen Nagern durchgeführt.
Fokus auf Schmerz-Schaltstelle im Rückenmark
Dedek und ihr Team haben nun bei Ratten und Menschen gezielt nach möglichen Geschlechtsunterschieden in der neuronalen Schmerzverarbeitung gesucht. Im Fokus stand dabei das Hinterhorn, der Teil des Rückenmarks, in dem Schmerzreize aus der Peripherie umgeschaltet und dann ans Gehirn weitergeleitet werden. Die Erregbarkeit der Neuronen in dieser Schaltstelle spielt eine entscheidende Rolle für die Schmerzwahrnehmung. Als zentraler Einflussfaktor gilt dabei der neuronale Wachstumsfaktor BDNF.
Dieser vom Gehirn produzierte Botenstoff wirkt auf einen Ionentransporter, der normalerweise die Übererregbarkeit der schmerzleitenden Neuronen im Hinterhorn verhindert. BDNF löst diese Schmerzbremse und fördert dadurch chronische Schmerzen. Für ihre Studie haben Dedek und ihre Kollegen untersucht, wie sich die Injektion von BDNF auf die Neuronen im Hinterhorn des männlichen und weiblichen Rückenmarks auswirkt. Dafür nutzten sie in Kultur gehaltene Rückenmarksteile, die von verstorbenen Organspendern oder Ratten stammten.
Reaktion nur bei männlichen Neuronen
Es zeigte sich: Im Rückenmark der männlichen Ratten und Menschen reagierten die Neuronen wie erwartet. Unter Einfluss von BNDF schwächte sich die „Schmerzbremse“ ab und die Erregbarkeit der Nervenzellen stieg. Dadurch potenzierte sich ihre Reaktion auf Schmerzreize. „Der spinale Übererregungsschaltkreis wurde bei Männern dadurch aktiviert“, so das Team. Als Folge würden diese Neuronen ein stärkeres Schmerzsignal an das Gehirn weiterleiten als eigentlich nötig.
Anders bei Frauen: Wurde das BDNF ins Rückenmark von weiblichen Ratten oder Frauen injiziert, blieb die Reaktion aus. „Anders als ihre männlichen Gegenparts zeigte das weibliche Rückenmarksgewebe keine BDNF-bedingten Veränderungen in der Verteilung und Expression der mit Übererregung verknüpften synaptischen Proteine“, berichten Dedek und ihre Kollegen. Beim weiblichen Geschlecht scheint dieser Schaltkreis demnach nicht oder anders zu funktionieren.
Einfluss der Hormone
Interessant dabei: Das Fehlen der Reaktion auf BDNF bei Frauen scheint eng mit dem Hormonhaushalt verknüpft zu sein. Das belegten Versuche mit Rattenweibchen, denen die Eierstöcke vor der Geschlechtsreife operativ entfernt worden waren – und damit die zentralen Quellen weiblicher Geschlechtshormone. Das Rückenmark dieser Ratten begann dadurch, ähnlich stark auf BDNF zu reagieren wie das der männlichen Tiere, wie die Wissenschaftler beobachteten.
Das stützt die Vermutung, dass Hormone eine zentrale Rolle für die unterschiedliche Schmerzwahrnehmung bei Männern und Frauen spielen. Demnach bleibt die grundsätzliche Funktion der Synapsen-Rezeptoren in den Rückenmarks-Hinterhörnern zwar mit und ohne Hormoneinfluss gleich. Die Reaktion auf den Botenstoff BDNF jedoch unterscheidet sich.
Neuer Einblick, aber offene Fragen
Zum ersten Mal haben die Forschenden damit einen geschlechtsspezifischen Unterschied schon bei der Schmerzverarbeitung im menschlichen Rückenmark identifiziert. „Die Entdeckung eines artübergreifenden Geschlechts-Dimorphismus in einem so zentralen neurologischen Mechanismus der chronischen Schmerzen ist ein entscheidender Schritt hin zu einem besseren Verständnis des Schmerzes und seiner Behandlung bei beiden Geschlechtern“, konstatieren Dedek und ihr Team.
Allerdings: Die neuen Erkenntnisse erklären zwar, warum Männer und Frauen unterschiedlich auf Schmerzreize reagieren. Weshalb aber Frauen häufiger unter chronischen Schmerzen leiden, ergibt sich daraus nicht. Denn die Ergebnisse legen bisher nur nahe, dass bei Frauen ein anderer Mechanismus für die übersteigerte Schmerzweiterleitung verantwortlich sein muss. Welcher dies ist, bleibt vorerst noch offen. (Brain, 2022; doi: 10.1093/brain/awab4089)
Quelle: The Ottawa Hospital