Die „Schweinegrippe“-Pandemie im Jahr 2009 verlief hierzulande glimpflicher als gedacht. Weltweit aber hat die Influenza des Virenstammes H1N1 wahrscheinlich zehnmal mehr Todesopfer gefordert, als die Weltgesundheitsorganisation WHO zunächst annahm, wie eine neue Studie zeigt. Auf dem amerikanischen Kontinent lag dabei die Mortalität 20fach höher als anderswo.
Das gab es lange nicht mehr: Am 12. Juni 2009 rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell die weltweite Pandemie-Warnstufe 6 aus – und damit die höchstmögliche. Grund für den Seuchen-Alarm: Die sich immer stärker ausbreitende Influenza A/H1N1 neuen Typs, die sogenannte „Schweinegrippe“. Diese Virenvariante war aus einem normalen Schweinegrippe-Virus entstanden, das durch Austausch einiger Gene die Fähigkeit erlangte, Menschen zu infizieren und auch von Mensch zu Mensch überzuspringen.
Übertriebene Angst?
Nachdem die ersten Fälle in Mexiko und den USA aufgetreten waren, breitete sich diese „neue“ Influenza“ sehr schnell weltweit aus. Im Gegensatz zur saisonalen Grippe, die vor allem für Ältere gefährlich werden kann, erkrankten an der pandemischen H1N1-Grippe vor allem jüngere Erwachsene und Kinder besonders schwer. Auch in Deutschland war die Angst zunächst groß: Grippemittel waren mancherorts ausverkauft und die Gesundheitsbehörden legten große Vorräte an Impfstoff an, um für die Pandemie gerüstet zu sein.
Die tatsächliche Infektionswelle dann allerdings bei uns relativ glimpflich. Bis Mitte 2010 wurden in Deutschland 258 Todesfälle und 226.000 Erkrankungen gemeldet und damit weniger als bei einer normalen, saisonalen Grippewelle. Es wurde daher im Nachhinein Kritik laut, die Gefahr sei völlig übertrieben worden. Weltweit soll die Influenza H1N1 neuen Typs bis Mitte 2010 rund 18.449 Todesopfer gefordert haben, so die Angaben der WHO. Auch das ist weniger als bei vielen saisonalen Grippewellen der Fall.
Fallzahlen neu überprüft
Inzwischen aber mehren sich die Zweifel an den niedrigen Fallzahlen der WHO, da diese nur labordiagnostisch gesicherte Fälle umfassen. Die Zahl der Todesopfer und Erkrankten könnte daher weitaus größer gewesen sein. Deshalb hat nun ein Team von 60 Wissenschaftlern aus 26 Ländern im Auftrag der WHO den Fall neu aufgerollt. „Denn es ist entscheidend wichtig, die globalen Auswirkungen einer solchen Pandemie zu verstehen, um sich auf das nächste Mal vorzubereiten, wenn ein pandemischer Virus auftaucht“, erklärt Erstautorin Lone Simonsen von der George Washington University. Und der nächste Ausbruch kommt bestimmt, darüber sind sich die Experten einig.
Für ihre Studie sammelten die Forscher Statistiken zu Sterbefällen in 21 Ländern in verschiedenen Regionen und filterten die Todesfälle durch Atemwegserkrankungen unbekannter Ursache heraus. Mit Hilfe verschiedener statistischer Verfahren ermittelten sie daraus in Verbindung mit den Fallzahlen und den Verbreitungskarten der WHO die Zahl der wahrscheinlichen Todesfälle durch die Influenza H1N1 neuen Typs.
Zehnmal mehr Tote – mindestens
„Die Studie bestätigt, dass das H1N1-Virus weitaus mehr Menschen getötet hat als ursprünglich angenommen“, sagt Simonsen. Statt „nur“ 18.4499 kamen die Forscher auf bis zu 203.000 Tote weltweit – mehr als zehnmal so viel. Aber es könnten sogar bis zu 400.000 sein, wie sie betonen. Denn gerade die „Schweinegrippe“ führte oft dazu, dass sich Vorerkrankungen wie beispielsweise Herz-Kreislaufleiden stark verschlimmerten und die Patienten letztlich an ihnen starben und nicht an der Grippe direkt. Ihre Todesfälle tauchen daher in der Statistik nicht bei den Influenzatoten auf.
Auch im Hinblick auf die Verteilung der Todesfälle kamen die Forscher zu anderen Ergebnisse als die ersten WHO-Berichte: Während diese vor allem Afrika und Südostasien als die am schwersten betroffenen Regionen sahen, ist in der neuen Verteilungskarte der amerikanische Kontinent ein „Hotspot“: Dort war die Mortalitätsrate der „Schweinegrippe“ 20-fach höher als anderswo in der Welt. Am schwerwiegendsten verlief die Krankheit bei Menschen in Mexiko, Argentinien und Brasilien. Weitaus geringer war dagegen die Mortalität in Australien und dem größten Teil Europas. Warum dies so war, bleibt allerdings unklar. Das müsse nun weiter untersucht werden, so die Forscher.
Bestätigt hat die neue Studie die ungewöhnliche Altersverteilung der Pandemie: Während die saisonale Grippe vor allem bei älteren Menschen mit geschwächtem Immunsystem schwerwiegende Folgen haben kann, traf die Influenza H1N1 neuen Typs auffallend häufig junge Erwachsene. Zwischen 62 und 85 Prozent der Pandemie-Toten waren jünger als 65 Jahre, wie die Forscher berichten. Diese Altersverteilung bedeute eine besonders hohe Belastung für Individuen und Gesellschaften, da hier Menschen in der Blüte ihres Lebens sterben, erklären die Forscher. (PLOS Medicine, 20123; doi: 10.1371/journal.pmed.1001558)
(George Washington University, 27.11.2013 – NPO)