Verblüffend simpel: Schon ein kleiner Stromreiz am Ohr könnte helfen, einer typischen Alterserscheinung entgegenzuwirken, wie eine Pilotstudie nahelegt. Denn der kitzelnde Strom reizt einen im Ohr verlaufenden Zweig des Vagusnervs und gleicht so eine alterstypische Disbalance im vegetativen Nervensystem aus. Das wiederum trägt dazu bei, den Blutdruck zu senken, das Herz zu stabilisieren und erhöht auch das allgemeine Wohlbefinden.
Wenn wir älter werden, verändert sich nicht nur unser Körper – auch die Balance in unserem vegetativen Nervensystem verschiebt sich. Der für Regeneration, aber auch viele Organfunktionen wichtige Parasympathicus-Zweig wird schwächer, dafür erlangt der anregende, für Flucht und Kampfreaktionen zuständige Sympathicus-Zweig die Oberhand. Diese Disbalance macht uns im Alter unter anderem anfälliger für Bluthochdruck, Stressfolgen, Organschäden und Herzprobleme.
Nervenportal in der Ohrmuschel
Doch wie lässt sich dieses Ungleichgewicht wieder normalisieren? Eine ungewöhnliche Antwort darauf könnten nun Beatrice Bretherton von der University of Leeds und ihre Kollegen gefunden haben. Denn wie sie herausfanden, lässt sich der schwächelnde Parasympathicus mithilfe sanfter Stromreize aktivieren – und dies ohne aufwändige Elektrodenkappen oder implantierte Geräte.
Den entscheidender Zugang zum vegetativen Nervensystem bietet dabei unser Ohr: „Das Ohr ist wie ein Tor, durch das wir ohne Medikamente oder invasive Prozeduren die metabolische Balance unseres Körpers beeinflussen können“, erklärt Bretherton. Denn in der Ohrmuschel endet ein Zweig des Vagusnervs, des Nervs, über den der Parasympathicus weite Teile unserer Organfunktion steuert.
Täglich 15 Minuten „Ohrenkitzeln“
Für ihr Experiment bekamen 29 über 55-jährige Versuchsteilnehmer täglich 15 Minuten lang ein kleines Gerät ans Ohr geklemmt, das der Ohrmuschel leichte Stromreize versetzte. Die Probanden spürten davon kaum mehr als ein sanftes Kitzeln. Vor Beginn der Studie und nach zwei Wochen der täglichen Behandlung testeten die Forscher die physiologischen Grundfunktionen aller Versuchsteilnehmer und erfassten durch eingehende Befragung auch deren subjektives Wohlergeben.
Es zeigte sich: Schon nach zwei Wochen der transkutanen Vagusnerv-Stimulation zeigten die Teilnehmer Verbesserungen in der Herzfunktion, dem Blutdruck und weiteren physiologischen Parametern. Dies deutet auf eine Stärkung des Parasympathicus und eine Normalisierung der altersbedingten Disbalance hin, wie die Forscher erklären. Die Probanden berichteten zudem über einen besseren Schlaf und eine ausgeglichenere Stimmung.
Als besonders wirksam erwies sich die Stromreiz-Behandlung bei den Teilnehmern, bei denen das nervöse Gleichgewicht besonders stark zum Sympathicus hin verschoben war.
Ganz neue Möglichkeiten
„Wir glauben, dass diese Ergebnisse nur die Spitze des Eisbergs sind“, sagt Bretherton. Denn die Möglichkeit, auf so einfache Weise das vegetative Nervensystem und den Parasympathicus zu beeinflussen, eröffnet ihrer Ansicht nach ganz neue Möglichkeiten, die Lebensqualität und Gesundheit im Alter zu verbessern.
Allerdings: Erst müssen noch Studien mit mehr Probanden belegen, dass die transkutane Vagusnerv-Stimulation tatsächlich signifikante Verbesserungen bewirkt. Zudem muss noch getestet werden, wie sich eine längere Behandlung auswirkt. „Wir sind gespannt darauf, die Wirkungen und die potenziellen Langzeit-Effekte der täglichen Ohrstimulation weiter zu erforschen“, sagt Bretherton.
Für durchaus vielversprechend hält die Ergebnisse auch der nicht an der Studie beteiligte David Clancy von der Lancaster University: „Die gemessenen Faktoren veränderten sich am meisten bei den Teilnehmern mit schlechterem Ausgangszustand. Diese Behandlung könnte demnach vor allem für diese Gruppe nützlich sein“, kommentiert er. Allerdings bemängelt er auch, dass in der Studie nur teilweise mit Placebo-Kontrollen gearbeitet wurde: „Um sicher zu sein, sollte eine kontrollierte Studie durchgeführt werden, bei der der Vagusnerv zum Schein gereizt wird.“ (Aging, 2019; doi: 10.18632/aging.102074)
Quelle: University of Leeds