Blick in den Mutterleib: Ein neuer Zellatlas enthüllt erstmals, wie das Skelett eines menschlichen Embryos entsteht und reguliert wird. Dadurch kann man genau verfolgen, in welcher Reihenfolge und durch welche Gene und Wechselwirkungen sich die Knochen des ungeborenen Kindes entwickeln, wie das Team in „Nature“ berichtet. Die Kartierung enthüllt auch, wie bestimmte Medikamente die Knochenbildung stören – das könnte bei der Entwicklung von Alternativen helfen.
Wir alle sind aus jeweils nur einer Zelle hervorgegangen – der befruchteten Eizelle. Aus ihr haben sich im Mutterleib alle Zelltypen, Gewebe und Organe unseres Körpers gebildet. Doch wie diese hochkomplexe Entwicklung im Einzelnen funktioniert, ist erst in Teilen geklärt. So haben Forschende beispielsweise die Bildung des Herzens, der Wirbelsäule oder auch des menschlichen Fußes rekonstruiert, meist geschah dies mithilfe von bei Fehlgeburten und Abtreibungen gestorbenen menschlichen Embryos.
Eine Blaupause der embryonalen Knochenbildung
Ein weiterer Meilenstein ist nun einem Team um Ken To vom Wellcome Sanger Institute in Großbritannien im Rahmen des internationalen Großprojekts „Human Cell Atlas“ gelungen. Ziel dieses Projekts ist es, alle Gewebe und Organe des menschlichen Körpers bis auf die Ebene der einzelnen Zellen, ihrer Gene und Genaktivität zu kartieren. To und sein Team haben die Skelettbildung des menschlichen Embryos erstmals bis ins Detail analysiert.
Dafür analysierten die Forschenden Gewebeproben von Embryos aus dem ersten Drittel der Schwangerschaft – ungefähr aus der Zeit von fünf bis elf Wochen nach der Befruchtung. Für jede einzelne Zelle in den Bildungsorten des kindlichen Skeletts und Schädels bestimmten sie die Gene, ihre Aktivität in Form der Boten-RNA sowie die epigenetischen Anhänge an der DNA der Zellen. Mithilfe eines speziellen Algorithmus konnten sie zudem verfolgen, wie sich diese Zellen zu Gruppen und funktionellen Einheiten zusammenfinden.
Erst Knorpel, dann Knochen
Das Resultat ist die erste „Blaupause“ der menschlichen Skelettbildung. „Es gibt unzählige Prozesse, die während der Entwicklung des menschlichen Skeletts und der Gelenke zusammenwirken. Unsere Forschung hat nun die Zelltypen und Mechanismen charakterisiert, die an der Bildung der Gliedmaßen und des Schädels beteiligt sind“, sagt To. Dabei zeigten sich einige zuvor unbekannte Zelltypen und Signalwege sowie Unterschiede zur Skelettentwicklung bei Mäusen.
Konkret zeigt die Kartierung: „Die Bildung der menschlichen Knochen beginnt etwa sechs bis acht Wochen nach der Befruchtung – etwa zu der Zeit, in der aus dem Embryo der Fötus wird“, berichten die Forschenden. In den Gliedmaßen dienen dabei zunächst Knorpelzellen als „Wegweiser“ und Gerüst für die entstehenden Knochen. Ab der achten Schwangerschaftswoche werden diese Knorpelgerüste dann nach und nach durch Knochengewebe ersetzt.
…aber das Schädeldach wächst anders
Beim Schädel des ungeborenen Kindes verläuft die Entwicklung dagegen anders: Für das Schädeldach bildet sich kein vorläufiges Gerüst aus Knorpelzellen, wie die Analysen enthüllten. Stattdessen vermehren sich knochenbildende Zellen in der Membranhülle des kindlichen Schädels. „Diese Knochenvorläufer tauchen an den gegenüberliegenden Grenzen der späteren Stirn- und Scheitelknochen auf“, berichten To und seine Kollegen. Auch bei diesen Zellen waren einige zuvor unbekannte Zelltypen dabei.
Im nächsten Schritt sorgt eine präzise abgestimmte und räumlich unterschiedliche Genaktivität dafür, dass die einzelnen Schädelplatten allmählich verknöchern, die Schädelnähte aber weich und unverknöchert bleiben. Diese Mechanismen zeigen nicht nur, wie diese Entwicklung abläuft und gesteuert wird, sie liefern auch erstmals genauere Informationen darüber, warum dies bei einigen Kindern nicht korrekt funktioniert. Bei diesen Kindern verknöchern die Schädelnähte verfrüht, wodurch das Gehirn nicht richtig wachsen kann.
Wie Arzneimittel dem Embryo-Skelett schaden
Interessant auch: Das Team hat außerdem untersucht, wie 65 gängige Medikamente die Skelettentwicklung des menschlichen Embryos beeinträchtigen können. Diese Arzneimittel gehören zu denen, die von schwangeren Frauen nicht eingenommen werden sollten, weil es dann zu Fehlbildungen und Störungen des Knochenwachstums kommen kann. „Unsere Analysen erlauben es nun, die Knochenzelllinien zu identifizieren, deren Genaktivität durch diese teratogenen Wirkstoffe verändert werden“, berichten To und seine Kollegen.
Diese Erkenntnisse können dabei helfen, neue Wirkstoffe spezifischer auf solche Nebenwirkungen hin zu testen – und so Arzneimittel sicherer machen. Auch unschädlichere Alternativen zu den nun untersuchten Medikamenten lassen sich nun gezielter entwickeln, wie das Team erklärt.
Referenz und Werkzeug für die Medizin
Insgesamt sehen die Forschenden in ihrem „multi-omischen“ Atlas der embryonalen Skelettentwicklung ein wichtiges Werkzeug für die Medizin. „Der Atlas hat enormes Potenzial, um zu verstehen, wie sich unsere Knochen bilden und wie wir Störungen dieses Wachstums besser behandeln können“, sagt Koautor Jan Patrick Pett vom Wellcome Sanger Institute. „Dank dieser Blaupause der Knochenbildung können wir zudem Knochen und Knorpel künftig effizienter im Labor züchten, was ein enormes therapeutisches Potenzial hat.“
Neben der neuen Karte der embryonalen Knochenbildung haben die Teams des Human Cell Atlas noch weitere Organe und Organsysteme bis auf die einzelnen Zellen und deren Genexpression hinab kartiert. Dazu gehört das Verdauungssystem, die für das Immunsystem wichtige Thymusdrüse, die haut und Teile des Gehirns. Insgesamt sind 40 Fachartikel zum aktuellen Stand der Kartierung erschienen. (Nature, 2024; doi: 10.1038/s41586-024-08189-z)
Quelle: Nature, Wellcome Trust Sanger Institute