Medizin

Stressreaktion kommt aus den Knochen

Forscher entdecken zuvor unbekannte Körperreaktion auf akute Gefahrensituationen

Skelett
Welche Rolle spielt unser Skelett für die Stressreaktion? © metamorworks/ iStock.com

Überraschende Entdeckung: In Gefahrensituationen schütten auch unsere Knochen ein Stresshormon aus. Dieser Botenstoff spielt offenbar eine noch wichtigere Rolle für die akute Stressreaktion des Körpers als das Adrenalin, wie Forscher berichten. Sie haben damit einen bisher völlig unbekannten Mechanismus aufgedeckt, der Tiere und wahrscheinlich auch Menschen auf „Kampf oder Flucht“ vorbereitet.

In Gefahren- und Stresssituationen reagiert unser Körper sofort: Veranlasst durch Signale des Gehirns schütten die Nebennieren das Hormon Adrenalin aus. Als Folge werden Herzschlag und Atmung schneller, die Muskeln spannen sich an – jede Faser unseres Organismus ist nun auf Kampf oder Flucht vorbereitet.

Nicht nur Adrenalin

Diese akute Stressreaktion ist aus evolutionsbiologischer Sicht mehr als sinnvoll. Denn erst durch sie können Tiere und Menschen auf Bedrohungen adäquat reagieren und im Zweifel ihr Überleben sichern. Mit der Kampf-oder-Flucht-Reaktion lässt sich auch erklären, warum Menschen in manchen Extremsituationen vermeintlich übermenschliche Kräfte entwickeln.

Wissenschaftler um Julian Meyer Berger von der Columbia University in New York und seine Kollegen haben nun herausgefunden, dass ein wesentlicher Bestandteil dieser wichtigen Stressreaktion bislang übersehen wurde: Nicht nur der Botenstoff Adrenalin spielt demnach eine Rolle dafür. Auch ein von unseren Knochen ausgeschüttetes Hormon ist offenbar entscheidend an der raschen körperlichen Anpassung beteiligt.

Ein Hormon aus den Knochen

Auf die Spur dieses bisher unbekannten Mechanismus führten die Forscher zwei Beobachtungen: Zum einen stellten sie fest, dass auch Menschen und Tiere mit funktionsbeeinträchtigten Nebennieren die bekannten Stressreaktionen wie beschleunigten Herzschlag zeigen können.

Zum anderen entdeckten sie bereits vor einigen Jahrzehnten den Botenstoff Osteocalcin. Dieses Peptidhormon gelangt von den Knochen in den Blutkreislauf und beeinflusst zahlreiche Körperfunktionen. Wie Experimente nahelegen, scheint Osteocalcin unter anderem das Erinnerungsvermögen und die Muskelfunktion verbessern zu können – Faktoren, die auch in Gefahrensituationen von Vorteil sind.

Mäuse im Stresstest

Könnte es daher sein, dass unser Skelett auch für die akute Stressreaktion eine Rolle spielt? Um diese Theorie zu überprüfen, testeten Berger und seine Kollegen, wie sich die Konzentration der bioaktiven Osteocalcin-Form im Blut in Stresssituationen verändert. Dafür konfrontierten sie Mäuse mit dem Geruch von Fuchsurin und anderen für die Tiere bedrohlichen Reizen.

Tatsächlich offenbarte sich: Die Osteocalcin-Werte schnellten bei den gestressten Tieren sofort nach oben und erreichten innerhalb von nur zwei bis drei Minuten ein Spitzenniveau, das sich mindestens drei Stunden lang hielt. Parallel zu diesem Hormonschub beobachteten die Forscher die typischen Stressreaktionen bei den Nagern.

Auch bei Menschen zeigte sich der Zusammenhang zwischen Stress und Osteocalcin: Testpersonen, die eine Rede halten sollten oder einem Kreuzverhör unterzogen wurden, hatten ebenfalls vermehrt die aktive Form dieses Knochenhormons im Blut, wie Experimente ergaben.

Ohne Osteocalcin läuft es nicht

Wie wichtig aber ist das Osteocalcin für die akute Stressreaktion? Überraschend wichtig, wie sich herausstellte: Genetisch veränderte Mäuse, die kein Osteocalcin oder Rezeptoren für diesen Botenstoff produzieren konnten, reagierten im Stresstest fast schon gleichgültig. „Ohne Osteocalcin zeigten sie keine starke Reaktion auf die Gefahr“, berichtet Bergers Kollege Gerard Karsenty.

Diese Beobachtung impliziert Überraschendes: Die Nebennieren sind für die akute Stressreaktion offenbar gar nicht so bedeutsam wie gedacht – erst durch Osteocalcin zeigt der Körper eine adäquate Reaktion auf unmittelbare Bedrohungen. „Die Vorstellung, dass unsere Knochen die Stressreaktion vermitteln und die Nebennieren nur eine untergeordnete Rolle spielen, ist absolut neu“, konstatiert Karsenty.

Glutamat als Aktivierer

Die Wissenschaftler untersuchten auch, wie genau die Ausschüttung des Knochenhormons in Stresssituationen stimuliert wird. Dabei zeichnete sich ab: Sendet die Amygdala in unserem Gehirn das Signal „Angst“, beginnen die knochenbildenden Osteoblasten den von Neuronen ausgeschütteten Botenstoff Glutamat aufzunehmen. Im Inneren der Zellen entfaltet dieser Neurotransmitter dann seine entscheidende Wirkung – er hemmt ein Enzym, dass das Osteocalcin normalerweise inaktiv macht.

Das nun aktivierte Knochenhormon wird von den Osteoblasten freigesetzt und wirkt hemmend auf parasympathische Neuronen ein, die im „Erholungsmodus“ des Körpers aktiv sind. Dadurch hat der für die Leistungssteigerung bei Belastung zuständige Sympathikus keinen Gegenspieler mehr und die mit der Kampf-oder-Flucht-Antwort assoziierten Reaktionen setzen ein.

„Wichtiger Überlebensvorteil“

Bestätigen weitere Untersuchungen diese Zusammenhänge, ergibt sich ein völlig neues Bild der Rolle unserer Knochen. „Die Fähigkeit des Osteocalcins, die akute Stressreaktion auszulösen, das Gedächtnis zu fördern und die Muskelfunktion zu verbessern, legt nahe: Dieses Peptidhormon bedeutet einen wichtigen Überlebensvorteil für Wirbeltiere, die in potenziell bedrohlichen Umgebungen leben“, so das Fazit des Teams. (Cell Metabolism, 2019; doi: 10.1016/j.cmet.2019.08.012)

Quelle: Cell Press/ Columbia University

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