Überraschende Ausnahme: Das Knochenmark unseres Schädels unterscheidet sich von dem aller anderen Knochen, wie eine Studie enthüllt. Während normales Knochenmark altert und im Laufe des Lebens immer weniger Blutzellen bildet, ist dies beim Schädelmark umgekehrt: Es wächst weiter, erhöht die Blutzell-Produktion und bildet sogar neue Blutgefäße. Der Schädelknochen ist damit eine ebenso überraschende wie einzigartige Ausnahme im Körper, wie Forschende in „Nature“ berichten.
Der Schädelknochen ist weit mehr als nur ein passiver Schutzhelm für unser Gehirn – er spielt eine aktive Rolle im Stoffhaushalt, für die Blutbildung und für unser Immunsystem. So haben Wissenschaftler erst vor wenigen Jahren winzige Knochentunnel entdeckt, die das Schädel-Knochenmark mit der Hirnhaut verbinden. 2023 zeigte sich, das diese Mikrotunnel mit einer fetthaltigen Substanz gefüllt und einzigartige Immunzellen beherbergen.
Blick in den Schädelknochen
Jetzt gibt es eine weitere Überraschung – diesmal im Knochenmark des Schädels. Bekannt war bereits, dass im Schädelmark neue Blutzellen entstehen – wie in anderen markführenden Knochen des Körpers auch. Typischerweise degradieren Knochenmark und Blutbildung aber mit dem Alter: Blutgefäße schrumpfen, Fett lagert sich ab und die Balance der produzierten Blutzellen verändert sich. Auch Entzündungen beeinträchtigen immer häufiger die Blutbildung. Bisher dachte man, dass dies in all Markknochen gleich abläuft – egal ob im Hüftknochen, dem Schulterblatt, den Rippen oder den Beinknochen.
Doch das ist offenbar nicht der Fall, wie nun Bong Ihn Koh vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster und seine Kollegen entdeckt haben. Für ihre Studie hatten sie das Schädel-Knochenmark von jungen und alten Mäusen mithilfe einer speziellen Immunfluoreszenzmethode untersucht. Sie zeigt das gesamte Gefäßnetz und alle Knochenmarkzellen im Schädeldach beim lebenden Tier.
Mehr Blutgefäße und Knochenmark statt weniger
Dabei zeigte sich Erstaunliches: Das Schädel-Knochenmark wächst mit dem Alter, statt gleichzubleiben oder zu schrumpfen – das ist im Körper bisher einzigartig. „Als ich zum ersten Mal die Schädel der alten Mäuse betrachtete, war ich überrascht zu sehen, dass das Schädeldach nun vollständig mit Knochenmark gefüllt und voller Blutgefäße war“, berichtet Koh. Die Schädeldicke nahm durch diese Ausdehnung um bis zu 70 Prozent zu. Und auch beim Menschen zeigt das Schädel-Knochenmark ein solches Wachstum, wie Scans im Computertomografen enthüllten.
Ergänzende Analysen enthüllten, dass sich im wachsenden Schädel-Knochenmark auch neue Blutgefäße bilden und wachsen. „Schon die massive Expansion des Knochenmarks im Schädel während des Alterns war definitiv eine Überraschung, aber die signifikante Zunahme der Blutgefäße war noch überraschender“, sagt Koh. Das sei ein für unseren Körper einzigartiger Fall von lebenslangem Gefäßwachstum und stehe im Kontrast zu fast allen anderen Organsystemen und Langknochen.
Immun gegenüber Alterserscheinungen
Als Folge dieses lebenslangen Wachstums produziert das Schädelmark im Alter sogar mehr Blutzellen als in der Jugend. „Der Beitrag des Schädelknochenmarks zur Blutbildungsleistung nimmt dadurch im Laufe des Lebens zu“, berichtet Seniorautorin Daniela Krause von der Universitätsmedizin Mainz. Auch das unterscheidet das Schädel-Knochenmark von dem anderer Knochen. Die zelluläre Umgebung des Schädel-Knochenmarks hält die blutbildenden Stammzellen offenbar fit bis ins Alter.
Tatsächlich zeigten die Analysen, dass selbst typische Alterserscheinungen dem Schädel-Knochenmark nichts anhaben können. „Alle wichtigen Altersmerkmale wie übermäßige Fettablagerung, Entzündungen und eine Vorliebe für bestimmte Arten von Immunzellen, waren im Knochenmark des Schädels praktisch nicht vorhanden, berichtet Koh. Die zelluläre Umgebung blieb gegenüber den wichtigsten Altersmerkmalen resistent und erstaunlich gesund.
Wo steckt der Jungbrunnen?
Aber warum? Was ist der Jungbrunnen des Schädelknochens? Bisher können auch Koh und ihr Team darüber nur spekulieren. Sie haben zwar gegenüber dem „normalen“ Knochenmark einige Unterschiede in den Signalwegen zwischen Stammzellen und Blutgefäßen gefunden. Zudem zeigte sich, dass eine Injektion von Stammzellen aus dem Schädelmark alter Mäuse auch bei jungen Artgenossen das Knochenmarkswachstum anregte. Aber wie all dies zusammenhängt, ist noch unklar.
„Obwohl wir jetzt wissen, dass das Knochenmark im Schädel auch im Alter noch wächst und erstaunlich gesund bleibt, müssen wir noch herausfinden, wie diese nährende und widerstandsfähige Zellumgebung geschaffen und erhalten wird“, sagt Koh. „Das ist erst die Spitze des Eisbergs.“ Die neuen Erkenntnisse könnten dann das Verständnis von Alterungs- und Krankheitsprozessen in unseren Geweben erheblich erweitern.
„Die im Rahmen unserer Studie gewonnenen Erkenntnisse können zudem Ansatzpunkt für die Entwicklung von neuartigen pharmakologischen Therapien sein, die die Blutbildung beeinflussen“, sagt Krause. Man könnte das Wissen nutzen, um beispielsweise auch das Knochenmark anderer Knochen widerstandsfähiger gegen das Altern oder Krankheiten zu machen. (Nature, 2024; doi: 10.1038/s41586-024-08163-9)
Quelle: Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz