Last in – First out: Ausgerechnet unsere neuesten, evolutionär jüngsten Hirnareale sind am anfälligsten für den altersbedingten Abbau, wie eine Studie enthüllt. Demnach schrumpfen im Alter die Hirnbereiche am stärksten, die uns Menschen von unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, unterscheiden. Die als letztes entwickelten Hirnteile sind demzufolge am anfälligsten, wie das Forschungsteam in „Science Advances“ berichtet. Das bestätigt auch eine Hypothese aus der Evolutionsforschung.
Wenn wir älter werden, altert auch unser Gehirn. Dies zeigt sich in einer abnehmenden geistigen Leistung, aber auch in morphologischen Veränderungen des Gehirns. So nimmt die graue Hirnsubstanz mit dem Alter ab und in der für höhere Denkfunktionen wichtigen Großhirnrinde entstehen weniger neue Verknüpfungen zwischen den Neuronen. Doch welche Hirnregionen sind dafür besonders anfällig? Und warum?
Mensch und Schimpanse im Vergleich
Antworten liefert nun der bisher umfangreichste Vergleich der Hirnalterung bei Mensch und Schimpanse – unserem nächsten Verwandten im Tierreich. „Schimpansen und Menschen haben substanzielle genomische und neuroanatomische Gemeinsamkeiten“, erklären Sam Vickery von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und seine Kollegen. Außerdem werden wir Menschen zwar im Schnitt etwas älter als die Menschenaffen, der Zeitpunkt der Menopause liegt aber im gleichen Alter – das erhöht die Vergleichbarkeit.
Für ihre Studie nutzten die Forschenden mittels Magnetresonanz-Tomografie (MRT) erstellte Hirnscans von 198 Schimpansen und 480 Menschen unterschiedlichen Alters. Mithilfe eines speziellen Mustererkennungs-Algorithmus, der sogenannten Orthogonal Projective Non-negative Matrix Factorization (OPNMF), ermittelten sie daraus, welche altersspezifischen Veränderungen sich bei Mensch und Menschenaffen im Gehirn zeigen und wo. Dabei untersuchten sie, ob sich dieses Muster bei den beiden Primatenarten unterscheidet.
Unterschiede in den Schrumpfungszonen
Das Ergebnis: Wie erwartet schrumpft die graue Hirnsubstanz bei beiden Arten mit steigendem Alter. Dabei gibt es jedoch auffallende Unterschiede im Verteilungsmuster: „Menschen zeigten die größten altersbedingten Abnahmen im frontalen und präfrontalen Cortex“, berichten Vickery und sein Team. Diese Hirnareale gelten unter anderem als Sitz des Arbeitsgedächtnisses, der Selbstkontrolle und der höheren Denkfunktionen. Weitere, weniger starke Veränderungen betrafen die motorischen und sensorischen Areale im Scheitellappen des Gehirns.
Anders bei den Schimpansen: Bei ihnen zeigt sich das Schrumpfen der grauen Hirnsubstanz vor allem in den Schläfenbereichen und in tieferliegenden Hirnregionen wie dem Striatum. Dieses Kerngebiet des Vorderhirns ist für motorische Funktionen und das Belohnungssystem wichtig. Ähnlich wie bei uns gibt es zudem einen leichten Abbau in den Regionen des Scheitellappens, wie das Team ermittelte.
Jüngste Areale altern am stärksten
Das Spannende daran: Ergänzende Analysen ergaben, dass die am stärksten alternden Hirnbereiche die evolutionär gesehen jüngsten sind – die Hirnareale, die bei uns Menschen im Vergleich zu den Menschenaffen stark vergrößert sind. „Zwischen dieser cerebralen Expansion und dem altersbedingten Abbau haben wir beim Menschen eine starke positive Korrelation gefunden“, schreiben Vickery und seine Kollegen. Genau die Hirnbereiche, die uns vom Affen unterscheiden, sind demnach auch die, die im Alter am stärksten schrumpfen.
„Dieser Zusammenhang ist besonders im orbito-frontalen Cortex und der Insula offensichtlich“, berichten die Forschenden. Letztere spielt für die bewusste Wahrnehmung und Bewertung von Reizen und für die Empathie eine wichtige Rolle und ist bei uns Menschen besonders ausgeprägt. Evolutionär ältere Hirnareale wie die Basalganglien, der Scheitellappen und der mittlere Schläfenlappen sind dagegen weniger vom altersbedingten Schrumpfen betroffen.
Last in – First out
Mit anderen Worten: All die Hirnareale, die uns zu Menschen machen und uns vom Affen unterscheiden, sind besonders anfällig für das Altern. „Das deutet darauf hin, dass die starke Ausweitung des präfrontalen Cortex und andere corticaler Hirnregionen im Rahmen der menschlichen Evolution einen Preis hat: Diese Hirnareale sind anfälliger gegenüber altersbedingten Veränderungen“, schreiben Vickery und seine Kollegen.
Dies stützt die Hypothese des „Last in – First out“, wie das Team erklärt. Nach dieser sind evolutionär neue Strukturen weniger robust und anfälliger für Veränderungen als diejenigen, die schon über lange Zeit hinweg optimiert und angepasst werden konnten. Daher nehmen die zuletzt hinzugefügten Strukturen auch als erste Schaden. Bezogen auf unser Gehirn vermuten die Forschenden, dass die höhere Anfälligkeit der „neuen“ Hirnareale mit der etwas geringeren Neuronendichte und dichteren Verknüpfung dieser jüngsten Erweiterungen unseres Gehirns zusammenhängt.
Die neuen Erkenntnisse liefern damit weitere Einblicke in die Wandelbarkeit unseres Gehirns und seine Schwachpunkte, könnte aber vielleicht auch Ansatzpunkte zur Bekämpfung des geistigen Abbaus im Alter bieten. (Sciences Advances, 2024; doi: 10.1126/sciadv.ado273)
Quelle: Forschungszentrum Jülich