Medizin

Unsere Vorfahren schliefen nicht länger als wir

Vermeintlich neuzeitlicher Schlafmangel ist ein Mythos

Wie viel Schlaf braucht der Mensch? © wavebreakmedia/ iStock.com

Aufbleiben bis spätabends, nur 6,5 Stunden Schlaf und kein Nickerchen zwischendurch: Was wie der Tagesablauf eines gestressten Managers klingt, war für unsere Vorfahren offenbar ganz normal, wie Beobachtungen bei drei Naturvölkern nahelegen. Der vermeintlich ursprüngliche „Paläo-Schlaf“ von acht oder neun Stunden ist demnach ein Mythos, betonen Forscher im Fachmagazin „Current Biology“. Und auch das lange Aufbleiben ist keine Erfindung der neuzeitlichen Zivilisation.

Schlaf ist für unsere Gesundheit unverzichtbar: Die Ruhepause gibt dem Gehirn Zeit, um Abfälle zu entsorgen und Erinnerungen abzuspeichern. Schichtarbeit oder konstanter Schlafmangel gelten daher als eher ungesund und sollen sogar Übergewicht fördern.

Wie viel Schlaf braucht der Mensch?

Wie viel Schlaf der Mensch allerdings von Natur aus braucht, ist umstritten. „Man nimmt an, dass die Erfindung des elektrischen Lichts, gefolgt von Technologien wie Fernsehen, Internet und Co sowie der erhöhte Koffeinkonsum den Schlaf des modernen Menschen gegenüber der natürlichen Dauer verkürzt und stört“, erklären Jerome Siegel von der University of California in Los Angeles und seine Kollegen. Dem Schlafmangel der Neuzeit werden daher alle möglichen Folgen zugeschrieben.

Aber stimmt das auch? Um das herauszufinden, besuchten Siegel und seine Kollegen drei Naturvölker und untersuchten ihre von der modernen Zivilisation noch unberührten Schlafgewohnheiten. Insgesamt zeichneten sie fast 1.200 Tage lang das Schlafverhalten von 94 Vertretern der Hadza in der Serengeti, der San-Buschleute in der Kalahari und der Tsimane in den Anden auf.

Zwei Angehörige der San in Namibia © Josh Davimes

Nur 6,5 Stunden Schlaf pro Nacht

Das überraschende Ergebnis: Alle drei Naturvölker schlafen genau kurz wie wir: im Durchschnitt etwa 6,5 Stunden pro Nacht. Das ist selbst nach den Maßstäben der Schlafzeiten im industrialisierten Europa und Nordamerika gemessen eher kurz. „Man hat geglaubt, wir müssten alle acht bis neun Stunden pro Nacht schlafen und dass wir ohne die modernen Technologie dies auch alle tun würden“, sagt Erstautor Gandhi Yetish von der University of New Mexico in Albuquerque. „Doch jetzt zeigt sich, dass das nicht stimmt.“

Wenn drei weit voneinander entfernt lebende Naturvölker in ihrem Schlafverhalten so gut übereinstimmen und konsistent eher wenig schlafen, dann spricht dies nach Ansicht der Forscher dafür, dass dies auch bei unsere Vorfahren so war. „Trotz unterschiedlicher Gene, Geschichte und Umwelten zeigen alle drei Gruppen sehr ähnliche Schlafmuster“, so Siegel. „Das spricht dafür, dass sie ein grundlegendes menschliches Schlafverhalten ausdrücken, wie es auch für den Homo sapiens typisch war.“

Wachbleiben lange nach Einbruch der Nacht

Und noch etwas widerlegen die Beobachtungen: Unsere Vorfahren gingen offenbar keineswegs mit der Dunkelheit ins Bett und standen auch nicht mit Sonnenaufgang wieder auf. Die Menschen der drei Naturvölker blieben stattdessen abends im Durchschnitt noch gut drei Stunden nach Sonnenuntergang wach. „Die Tatsache, dass wir alle Stunden nach Sonnenuntergang noch wach sind, ist demnach absolut normal“, betont Siegel. „Das längere Aufbleiben scheint keine neue Entwicklung zu sein, obwohl das elektrische Licht diese späte Wachperiode möglicherweise noch zusätzlich verlängert hat.“

Morgens standen die drei Jäger und Sammler-Kulturen meist schon kurz vor Sonnenaufgang auf. Als Wecker dient dabei wahrscheinlich die Temperatur, wie die Forscher berichten. Denn immer dann, wenn die über Nacht abgekühlte Luft ihren kältesten Punkt erreicht hatte, wachten auch die San, Hadza und Tsimane auf. Der Vorteil dabei: Die Menschen bekamen so besonders viel Morgenlicht, das als Schlüsselfaktor für die innere Uhr gilt.

Auch das Nickerchen ist nicht ursprünglich

Ebenfalls als Mythos entlarvt die Studie das vermeintlich natürliche Nickerchen. Der „Power-Nap“ gilt heute nicht nur als probates Mittel, um tagsüber kurz wieder Energie zu tanken. Einige Befürworter verkaufen ihn auch als ursprünglich – auch unsere Vorfahren sollen zwischendurch immer mal kurz geschlafen haben.

Doch die Beobachtungen bei den drei Naturvölkern widerlegen dies: Kaum ein Angehöriger der drei Jäger und Sammler-Gemeinschaften ließ sich tagsüber zum Nickerchen nieder. „Es gibt diesen Mythos, dass Menschen früher täglich zwischendurch kurz schliefen und dass wir durch unsere moderne Arbeitswelt dies unterdrücken“, sagt Siegel. „Aber wie sich zeigt, ist das Nickerchen bei diese Völkern extrem selten.“

Einen wichtigen und möglicherweise sehr erhellenden Unterschied gibt es aber zwischen den drei Naturvölkern und uns: Sie kennen keine Schlaflosigkeit. Während in der modernen Gesellschaft bis zu 20 Prozent aller Menschen an Schlafstörungen leiden, kennen diese Völker nicht einmal ein Wort für dieses Leiden. Vielleicht kann man sich daher bei ihnen sogar noch etwas abgucken. „Wenn wir Aspekte ihrer Umwelt nachahmen, könnten wir vielleicht einige Schlafstörungen lindern“, hofft Siegel. (Current Biology, 2015; doi: 10.1016/j.cub.2015.09.046)

(University of California – Los Angeles, 16.10.2015 – NPO)

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