Medizin

Ur-Antibiotikum wiedererweckt

Genmanipulierte Bakterien produzieren die rekonstruierte Urform von Vancomycin und Co

Antibiotikum
Mithilfe einer "Zeitreise" haben Forschende rekonstruiert, wie die einst von Bakterien produzierte Urform einer gängigen Antibiotikaklasse aussah. © Anna Voigtländer, Universität Tübingen/CMFI

Antibiotische Zeitreise: Forschende haben erstmals rekonstruiert, wie der „Urahn“ einer gängigen Antibiotikaklasse aussah – die einst von Urzeit-Bakterien erzeugte Urform aller Glykopeptid-Antibiotika. Zudem gelang es, dieses Paleomycin getaufte Ur-Antibiotikum wieder zum Leben zu erwecken: Das Team pflanzte die entsprechenden Gene einem modernen Bakterium ein und dieses produzierte daraufhin das urzeitliche Paleomycin. Diese Urform erwies sich bereits als potenter Wirkstoff.

Antibiotika sind für die moderne Medizin unverzichtbar. Doch ursprünglich entwickelt wurden sie als Waffen im evolutionären Wettrüsten von Mikroben: Schon vor Millionen von Jahren produzierten Bakterien und Pilze antibiotisch wirkende Moleküle, um sich Rivalen und Feinde vom Leib zu halten. Viele heutige Antibiotikaklassen gehen daher auf Schimmelpilze oder Bodenbakterien zurück.

„Tausende von antibiotischen Verbindungen wurden schon aus natürlichen Quellen isoliert und viele weitere sind noch unentdeckt – dies demonstriert ihre enorme strukturelle Vielfalt“, erklären Mathias Hansen von der Monash University in Australien und seine Kollegen. „Doch bisher wissen wir nur wenig darüber, über welche molekularen Mechanismen sich diese Naturprodukte einst entwickelt haben.“

Glykopeptid-Antibiotika

Moderne Glykopeptid-Antibiotika wie Vancomycin oder Teicomycin haben eine ähnliche Grundstruktur, aber sind unterschiedlich komplex. © Hansen et al./ Nature Communications, CC-by 4.0

Stammbaum der Glykopeptid-Antibiotika rekonstruiert

Die Evolution eines dieser Ur-Abwehrstoffe haben nun Hansen und sein Team erstmals nachvollzogen. Sie rekonstruierten die Entwicklung der Glykopeptid-Antibiotika (GPA), einer Wirkstoffklasse, zu der unter anderem die gängigen Antibiotika Vancomycin und Teicomycin gehören. Gemeinsam ist diesen Molekülen ein Kern aus mehreren ringförmigen Peptiden und Enzymen, durch die sie die Zellwand der Zielbakterien angreifen. Die Bauanleitung für diese Strukturen wird in mehreren biosynthetischen Genclustern (BGC) kodiert.

Für ihre Zeitreise zum Urahn der Glykopeptid-Antibiotika verglichen die Forschenden die Gencluster von 29 verschiedenen Varianten dieser Wirkstoffe. „Unser Hauptziel war es, die Genverluste und Genzugewinne und den zeitlichen Ablauf der evolutionären Ereignisse in der Geschichte der BGC-Evolution zu verstehen“, erklären sie. Auf Basis dieser Vergleichsanalysen erstellte das Team einen Stammbaum der GPA-Strukturen.

Urform war verblüffend komplex

Der Antibiotika-Stammbaum enthüllte: Alle Glykopeptid-Antibiotika gehen tatsächlich auf eine gemeinsame Urform zurück – ein Molekül, das vor langer Zeit von einem urzeitlichen Bakterium „erfunden“ wurde. Dieses Ur-Antibiotikum tauften die Forschenden Paleomycin. Aus ihm entwickelten sich durch Mutationen, Rekombinationen und den horizontalen Genaustausch zwischen verschiedenen Bakterien nach und nach alle heute bekannten Formen der Glykopeptid-Antibiotika.

Paleomycin
Paleomycin: So sieht die rekonstruierte Urform der Glykopeptid-Antibiotika aus. © Hansen et al./ Nature Communications, CC-by 4.0

Überraschend jedoch: Anders als erwartet verlief diese Entwicklung nicht von einem einfachen Grundmolekül hin zu immer komplexeren Strukturen, sondern genau umgekehrt. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Paleomycin getaufte Vorfahre schon einen komplexen, tetrazyklischen, aus sieben Peptiden bestehenden Kern mit ringförmigen Anhängen besaß“, berichten Hansen und seine Kollegen. Damit ähnelte die Antibiotika-Urform eher dem modernen, relativ komplexen Teicomycin als dem nur aus drei zentralen Peptiden aufgebauten Vancomycin.

Demnach haben die Bakterien die Struktur ihrer Abwehrmoleküle eher vereinfacht aus ausgebaut -vermutlich, um chemische Ressourcen und Energie zu sparen. „Es handelt sich um Stoffe mit einer aufwendigen chemischen Struktur, die das Bakterium viel Energie kosten. Eine Vereinfachung bei gleicher Funktion könnte einen evolutionären Vorteil bieten“, erklärt Seniorautorin Nadine Ziemert von der Universität Tübingen.

Bakterien erwecken Paleomycin wieder zum Leben

Doch wie wirksam war das Ur-Antibiotikum? Um das herauszufinden, entschlossen sich die Forschenden, das Paleomycin wieder zum „Leben“ zu erwecken. Dafür schleusten die Forschenden die biosynthetischen Gencluster des Paleomycins in Amycolatopsis japonicum ein – ein Bakterium ein, das von Natur aus das Glykopeptid-Antibiotikum Ristomycin produziert. Daraufhin begann dieser genmanipulierte Stamm tatsächlich, statt seiner eigenen GPA-Version das Ur-Antibiotikum Paleomycin zu produzieren.

„Es war sehr aufregend, ein solch uraltes Molekül zu erschaffen, als würde man einen Dinosaurier oder ein Wollhaarmammut wieder zum Leben erwecken“, berichtet Ziemert. Weitere Tests ergaben, dass das rekonstruierte Paleomycin tatsächlich antibiotisch wirksam ist: In Zellkulturen des Testbakteriums Bacillus subtilis zeigten sich schon nach kurzer Zeit leere Stellen im Bakterienrasen – ein Indiz dafür, dass Paleomycin die Bakterien abgetötet hatte.

Nach Ansicht des Forschungsteams eröffnet ihre Zeitreise zurück zur Urform der Glykopeptid-Antibiotika wertvolle Erkenntnisse nicht nur zur Evolution dieser Wirkstoffe. Auch bei der Entwicklung neuer, synthetischer Varianten solcher Antibiotika könnten die Ergebnisse hilfreich sein. „Diese Zeitreise liefert uns eine Grundlage, um diese wichtige Antibiotikagruppe mit technischen Methoden weiterzuentwickeln“, erklärt Ziemert. (Nature Comunications, 2023; doi: 10.1038/s41467-023-43451-4)

Quelle: Nature Communications, Eberhard Karls Universität Tübingen

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