Verborgener Einfluss: Wir verdanken Viren möglicherweise mehr als wir glauben. Denn die Erreger haben im Laufe der Evolution überraschend stark dazu beigetragen, die Entwicklung unserer Proteine voranzubringen, wie nun eine Studie belegt. Demnach ist die Anpassungsrate von Proteinen mit Virenkontakt dreimal höher als bei den restlichen – und darunter sind keineswegs nur die direkten Akteure der Immunabwehr.
Viren gelten gemeinhin nicht gerade als Wohltäter, denn meist agieren sie als krankmachende Zellpiraten. Immerhin gehen einige der tödlichsten Krankheiten, ob Pocken, Aids, Influenza oder Ebola auf ihr Konto. Andererseits tragen wir beträchtliche Relikte alter Viren sogar in unserem Erbgut. Wissenschaftler vermuten schon länger, dass der ständige, wiederkehrende Kontakt mit Viren ein wichtiger Einflussfaktor in unserer Evolution gewesen sein könnte.
In welchem Ausmaß aber Viren unserer Entwicklung prägten, blieb bisher unklar. „Bisher wurde die Anpassung durch den Kampf gegen Viren nur an einer Handvoll von Proteinen untersucht, die auf die antivirale Abwehr spezialisiert sind“, erklären David Enard von der Stanford University und seine Kollegen. „Aber die Viren interagieren mit hunderten und tausenden von Säugetier-Proteinen.“
Fahndung im Proteindschungel
Um den evolutionären Einfluss der Viren zu klären, durchforsteten die Forscher die Strukturdaten von knapp 10.000 evolutionär sehr alten Säugetier-Proteinen. Sie suchten bei diesen Eiweißen nach potenziellen Ansatzstellen für Viren, virale Proteine oder virale DNA, die auf eine vergangene oder aktuelle Interaktion mit den Erregern hindeuten. Bei gut 1.300 Proteinen wurden die Forscher fündig.
Spannend aber wurde es im nächsten Schritt: Die Wissenschaftler verglichen die Struktur dieser vireninteragierenden Proteine (VIP) in verschiedenen Säugetierarten und konnten so feststellen, mit welcher Rate und in welchem Ausmaß sich diese Proteine im Laufe der Evolution verändert haben. Diese Werte verglichen sie mit denen von Proteinen, die nicht mit Viren wechselwirken können.
Dreimal schnellere Evolution
Das erstaunliche Ergebnis: Die Proteine, die mit Viren in Kontakt kommen könne, haben sich dreimal schneller und stärker verändert als die meisten anderen Proteine. „Viren scheinen für rund 30 Prozent aller Aminosäure-Veränderungen im urzeitlichen Anteil des menschlichen Proteoms verantwortlich zu sein“, berichten Enard und seine Kollegen. Die Spuren des Wettrüstens zwischen Viren und Säugetieren zeige sich in einer erstaunlich großen Zahl von Proteinen.
„Es ist klar, dass eine Population, die von einem Virus befallen wird, sich entweder anpassen muss oder ausstirbt“, sag Enard. Und das wirke sich natürlich auf die Proteine des Lebewesens aus. „Aber was uns wirklich überraschte, war das Ausmaß und die Klarheit des von uns gefundenen Musters. Das ist der erste Beleg für einen so starken Einfluss der Viren auf die Anpassung.“
„Prägung in jedem Aspekt“
Überraschend auch: Die durch den Einfluss von Viren im Laufe der Evolution veränderten Proteine gehören keineswegs alle zur Immunabwehr. Stattdessen scheint die Anpassungsrate bei vermeintlich unbeteiligten Proteinen mindestens genauso hoch zu liegen wie bei den direkten Akteuren der Immunabwehr. „Der ständige Kampf mit Viren hat uns in jedem Aspekt geprägt – nicht nur in den wenigen Proteinen, die Infektionen bekämpfen – das ist eine fundamentale Entdeckung“, konstatiert Seniorautor Dmitri Petrov von der Stanford University.
Seiner Ansicht nach unterschätzt die aktuelle Studie den Einfluss der Viren wahrscheinlich sogar beträchtlich. Denn viele der Proteine, die die Forscher ausgesondert haben, weil sie keine direkten Ansatzstellen für Viren besitzen, könnten bei einer Vireninfektion im Zuge von Reaktionskaskaden auch indirekt beeinflusst und zu Anpassungen genötigt worden sein. Andere könnten einst Ansatzstelle besessen haben, sie aber im Laufe der Zeit verloren haben.
Damit scheint klar, dass Viren mehr sind als nur kurzzeitig folgenreiche Krankheitserreger. Stattdessen gehören sie zu den wichtigen Triebkräften der Evolution – ähnlich wie das Klima oder andere Umwelteinflüsse. Sie prägen die Entwicklung von Organismen einerseits durch Kontakt und evolutionäre Wettrüsten, andererseits aber auch durch eine Art der Symbiose, die bis in unser eigenes Genom hineinreicht. (eLife, 2016; doi: 10.7554/eLife.12469)
(Genetics Society of America, 15.07.2016 – NPO)