Einige Viren stehlen unseren Zellen kurze RNA-Stücke, um die Produktion ihrer Proteine in Gang zu bringen. Doch dabei entstehen auch hybride „Frankenstein“-Moleküle – Proteine, die teils menschlich, teils viral sind, wie nun eine Studie enthüllt. Diese Hybrid-Proteine lassen sich unter anderem bei Infektionen mit Influenza und Lassaviren nachweisen. Sie könnten sogar dazu beitragen, eine Infektion voranzutreiben, wie die Forscher im Fachmagazin „Cell“ berichten.
Viren brauchen unsere Zellmaschinerie, um sich zu vermehren. Sie nutzen die Ribosomen, um ihre viralen Proteine herzustellen und teilweise auch zelleigene Enzyme, um ihr Erbgut zu vermehren. RNA-Viren wie Influenza, Masern oder das neue Coronavirus haben dabei den Vorteil, dass sie Teile ihres Erbguts direkt von den zellulären Proteinfabriken auslesen lassen können.
Kidnapping im Zellplasma
Doch es gibt einen Haken: Damit eine in RNA-Form kodierte Protein-Bauanleitung vom Ribosom erkannt und ausgelesen wird, benötigt sie ein spezielles Startsignal. Diese besteht aus einer kurzen Abfolge von RNA-Basen, den sogenannten 5′-UTRs. Sie werden von der menschlichen Zellmaschinerie an den Anfang jedes Boten-RNA-Strangs gehängt, der aus dem Zellkern zu den Ribosomen geschickt wird. Die virale RNA hat dieses Startsignal aber nicht.
Deshalb haben viele Viren eine raffinierte Gegenstrategie entwickelt: Sie schnappen sich einfach einige der menschlichen Boten-RNAs, schneiden ihnen das Startsignal ab und heften dann ihre eigenen RNA-Stränge daran. Dieses sogenannte „Cap-Snatching“ ist von einigen negativen einsträngigen RNA-Viren bekannt, zu denen viele Krankheitserreger wie Influenza, Masern, Ebola, Mumps oder das Lassavirus gehören.
Bislang dachte man allerdings, dass die geklauten RNA-Abschnitte nur als Starthilfe dienen – und dass die resultierenden Proteine rein viral sind.
Hybrid-Proteine aus viralen und menschlichen Anteilen
Das entpuppt sich nun als Irrtum. Denn wie Jessica Ho von der Mount Sinai School of Medicine in New York und ihre Kollegen herausgefunden haben, werden mit den RNA-Startsignalen auch Bauanleitungen menschlicher Proteinstücke geklaut und in den Ribosomen abgelesen. Dadurch entstehen in den befallenen Zellen Proteine, die teils viralen Ursprungs sind und teils vom menschlichen Wirt kommen.
In Zellkulturen, die mit dem Influenza-A-Virus infiziert waren, beobachteten die Forscher die Produktion drei verschiedener solcher Hybrid-Proteine. Sie bezeichnen sie als „Upstream Frankenstein Open Reading Frames“, kurz UFO. „Obwohl diese UFO-Proteine weniger häufig sind als die hauptsächlichen Virenproteine, werden sie von den infizierten Zellen in nachweisbaren Mengen erzeugt“, berichten Ho und ihre Kollegen.
„Frankenstein“-Proteine machen Viren virulenter
Aber wozu? Um das herauszufinden, erzeugten die Forscher einen Influenza-Virenstamm, der diese „Frankenstein“-Proteine nicht herstellen kann. In Zellkulturen und Mäusen testeten sie dann, ob sich diese manipulierten Viren genauso gut vermehren und ausbreiten können wie ihre unveränderten „Artgenossen“.
Das Ergebnis: In Zellkulturen konnten Ho und ihre Kollegen keine signifikanten Unterschiede bei der Virenvermehrung feststellen. Bei den Mäusen jedoch erwiesen sich die gehandicapten Virenstämme als weniger virulent. „Das deutet darauf hin, dass die Expression dieser Hybrid-Proteine zur Virulenz der Viren beiträgt“, sagen die Forscher. Ergänzende Tests ergaben zudem, dass die Abwehrzellen des Immunsystems die Frankenstein-Proteine erkennen und auf sie reagieren.
Auch bei anderen RNA-Viren wahrscheinlich
Das aber bedeutet: Die menschlich-viralen Hybrid-Proteine scheinen sowohl Vorteile als auch Nachteile für die Viren zu haben. Aber die Tatsache, dass nahezu alle Influenza-A-Virenstämme diese Proteine erzeugen, spreche dafür, dass diese Frankenstein-Proteine den Viren insgesamt gesehen nützlich sind, sagen Ho und ihre Kollegen. Welche Vorteile dies im Einzelnen sind, ist allerdings bislang unbekannt.
Klar scheint aber: RNA-Viren parasitieren unsere Zellen offenbar noch umfassender als bislang gedacht. „Unsere Arbeit zeigt einen neuen Weg, auf dem einige Viren auch noch das letzte bisschen Potenzial aus der molekularen Maschinerie ihres Wirts rausholen“, sagt Koautor Ed Hutchinson von der University of Glasgow. „Das könnte bedeuten, dass eine große Zahl an Virenarten solche zuvor unerkannten Proteine produzieren kann.“ Denn ersten Tests nach sind auch andere negative einsträngige RNA-Viren dazu fähig.
Nach Ansicht der Wissenschaftler könnten diese neuen Erkenntnisse daher wichtig für die Bekämpfung vieler viraler Krankheiten sein. „Jetzt, da wir wissen, dass es diese Hybrid-Proteine gibt, können wir sie näher erforschen“, sagt Hos Kollege Iva Marazzi. „Dieses Wissen könnte uns dann bei der Virenbekämpfung helfen.“ (Cell, 2020; doi: 10.1016/j.cell.2020.05.035)
Quelle: The Mount Sinai Hospital / Mount Sinai School of Medicine