Barbie fehlt es an Expertise und Fachgebieten
Klamers erste Erkenntnis: Gleichstellungs- und Diversitätskriterien kannten Barbies „Arbeitgeber“ offenbar nicht. Ihrem Äußeren nach waren die untersuchten Barbies überwiegend erwachsen (98 Prozent), weiblich (93 Prozent) und weiß (59 Prozent). Keine von ihnen hatte eine körperliche Behinderung. Im Gegensatz dazu waren nur 32 Prozent der Karrierepuppen von anderen Herstellern weiß und eine von ihnen trug eine Armprothese, so Klamer. Insgesamt spiegelten andere Marken eine größere ethnische Bandbreite wider.
Und auch die berufliche Expertise der Barbies wirft Fragen auf. So konnte Klamer nur drei Barbies als Augenärztinnen identifizieren. Die übrigen hatten entweder gar kein konkretes Fachgebiet oder waren Kinderärztinnen ohne weitere konkrete Spezialisierung, wie die Forscherin berichtet. Als Expertinnen gingen die Barbies damit meist nicht durch. Insgesamt behandelten die meisten der Barbies in medizinischen Berufen Kinder (66 Prozent), nur vier Prozent behandelten erwachsene Patienten. Damit zementieren diese Pupen eher gängige Klischees als sie zu durchbrechen.
Schwere Verstöße gegen Sicherheitsstandards
Um festzustellen, ob die Puppen wenigstens die Sicherheitsstandards von Krankenhäusern und Laboren erfüllen würden, bewertete Klamer zudem das persönliche Sicherheitszubehör der Barbies gemäß den Richtlinien der Indiana University. Das Ergebnis: Die Barbies trugen zwar häufig Berufskleidung wie Laborkittel und Schutzbrillen und brachten ihre Arbeitsgeräte wie Mikroskope, Bunsenbrenner, Blutdruckmessgeräte und Stethoskope mit.
Allerdings erfüllte keine Puppe vollständig die Sicherheitsstandards für ihren jeweiligen Beruf, bemängelt Klamer. In der echten Arbeitswelt riskierten die Barbies damit, sich zu verletzen oder zu infizieren. Beispielsweise waren 98 Prozent der Ärztinnen mit Stethoskopen ausgestattet, aber nur eine verfügte über eine Gesichtsmaske und keine einzige trug bei ihrer Arbeit Einweghandschuhe.
Kurze Röcke und High Heels
Etwa zwei Drittel der als Medizinerinnen und Wissenschaftlerinnen tätigen Barbies trugen außerdem ihr Haar offen sowie kurze Röcke oder Kleider und mehr als die Hälfte trug Schuhe mit hohen Absätzen, wie Klamer feststellte. Das war selbst dann der Fall, wenn die Puppen in Umgebungen wie Krankenhäusern und Laboren arbeiteten, in denen von diesem Kleidungsstil abgeraten wird oder er aus Sicherheitsgründen ausdrücklich verboten ist.
Keine einzige der untersuchten Barbie-Wissenschaftlerinnen erfüllte alle Anforderungen an die persönliche Schutzausrüstung in Bezug auf Haare und Kleidung, kritisiert Klamer. Dazu zählen beispielsweise auch flache, geschlossene Schuhe und lange Hosen sowie Laborkittel mit langen Ärmeln.
Allerdings ist Barbie damit kein Einzelfall: Der Vergleich mit anderen Karrierepuppen ergab, dass diese ähnlich wenige Fachgebiete repräsentierten wie die Barbies. Und auch die meisten Puppen anderer Hersteller trugen keine ausreichende Schutzkleidung, berichtet Klamer. Ausnahmen bildeten dabei Figuren von Lego und Playmobil, die die Sicherheitsstandards größtenteils erfüllten.
„Barbie muss gläserne Decken durchbrechen“
Um realistischere Vorbilder für Mädchen und damit künftige Fachkräfte zu generieren, fordert Klamer alle Spielzeugfabrikanten auf, akkuratere und beruflich vielfältigere Karrierepuppen herzustellen, die in der Wissenschaft oder Medizin arbeiten. „Um der jungen Mädchen und ihrer selbst willen muss Barbie weiterhin gläserne Decken durchbrechen“, sagt Klamer.
Demnach sollte Barbie erwägen, ihre medizinische und wissenschaftliche Karriere auf Bereiche auszudehnen, in denen Frauen und andere unterrepräsentierte Gruppen nach wie vor in der Minderheit sind. Klamer schlägt etwa vor, Barbie in der Epidemiologie, Forensik oder Biostatistik einzustellen und zugleich die Ausrüstung aller Barbies zu verbessern. „Dr. Barbie sollte modisch, aber auch sicher sein. Sie kann immer noch einen rosafarbenen Laborkittel tragen, sofern er bis zu den Handgelenken reicht“, so Klamer.
Diese Forderung trifft auf Zuspruch bei Medizinern. „Als Chirurgen in eindeutig männerdominierten Bereichen unterstützen wir Klamers Schlussfolgerung, dass Barbies ein vielfältigeres Feld medizinischer und wissenschaftlicher Berufe repräsentieren sollten und dass Sicherheit vor Mode geht“, schreiben Sareh Parangi und ihre Kollegen von der Harvard Medical School in einem begleitenden Kommentar zur Studie.
Barbie sollte Neurochirurgin oder Unfallchirurgin werden
Medizinstudentinnen würden immer noch unverhältnismäßig stark davon abgehalten, eine Karriere als Chirurgin anzustreben, erklären die Forschenden. Wenn Mädchen in ihrer Kindheit mit einer Neurochirurgin-Barbie oder einer Unfallchirurgin-Barbie spielen könnten, würde sie das möglicherweise widerstandsfähiger gegen sexistische Vorurteile und Ratschläge in Bezug auf ihre Karriere machen, hoffen die Mediziner.
„Mit einem erweiterten Sortiment können Barbies die Ansichten junger Mädchen über Chirurgen und Wissenschaftler inspirieren, anstatt diese Karrierewege abschreckend darzustellen. Wir beraten Mattel gerne, welche Begleitgegenstände und persönliche Schutzausrüstung eine neue Chirurginnen-Barbie braucht, damit die Puppe realistisch ist und Spaß macht“, fügen sie hinzu und präsentieren als Beispiel zwei Chirurginnen-Barbies mit selbstgenähter Arbeitskleidung. (The BMJ, 2023; doi: 10.1136/bmj-2023-077276; doi: 10.1136/bmj.p2781)
Quelle: BMJ-Weihnachtsausgabe
29. Dezember 2023
- Claudia Krapp