Warum schaffen wir es oft, selbst die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden? Und warum entwickeln wir beim Suchen meist eine Art Tunnelblick? Diese Frage haben US-amerikanische Forscher jetzt genauer untersucht – mit überraschenden Ergebnissen: Denn unser Gehirn mobilisiert bei einer solchen Suche fast alle Ressourcen. Selbst Hirnbereiche, die eigentlich ganz andere Aufgaben haben, werden nun mit eingespannt. Diese Umwidmung der Zuständigkeiten erst macht es uns möglich, trotz der verwirrenden Vielfalt von Objekten um uns herum genau das herauszufiltern, das wir gerade suchen, so die Forscher im Fachmagazin „Nature Neuroscience“.
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Wenn wir unseren Schlüssel suchen oder einen Bekannten in einer Menschenmenge entwickeln wir fast eine Art Tunnelblick: Wir scannen die Umgebung systematisch nach genau dem gesuchten Objekt ab, was nicht passt, wird ignoriert. Wir konzentrieren uns voll und ganz darauf, inmitten der vielen ablenkenden Formen, Farben und Strukturen genau die zu finden, die unserem gesuchten Objekt entsprechen. Was dabei in unserem Gehirn geschieht, war bisher jedoch weitgehend unbekannt, wie Tolga Cukur von der University of California in Berkeley und seine Kollegen erklären.
Semantische Karte der Zuständigkeiten
Bekannt war aber bereits, dass unser Gehirn über ein sehr geordnetes Ablagesystem verfügt: Das, was wir wahrnehmen, wird von ihm in tausende von Objektkategorien eingeteilt. Das ermöglicht es uns beispielsweise, selbst ganz unterschiedlich aussehende Menschen als „Mensch“ zu erkennen oder einen Apfel und eine Banane dennoch als Obst. In unserer Sehrinde sind dabei für die verschiedenen Kategorien jeweils eigene Gruppen von Nervenzellen zuständig, die gezielt immer dann reagieren, wenn „ihre“ Objektsorte in unser Blickfeld gerät. Dadurch entsteht in der Hirnrinde quasi eine Art semantische Karte der Zuständigkeiten.
Die Frage der Forscher war nun: Ändert sich die Zuständigkeit der Neuronengruppen, wenn wir gezielt nach einem bestimmten Objekt suchen? Um das herauszufinden, ließen sie fünf Probanden jeweils eine Stunde lang Naturdokumentationen anschauen. Die in diesem Filmen auftauchenden Objekte gehörten 935 verschiedenen vom Gehirn genutzten Objektkategorien an, wie Cukur und seine Kollegen berichten. Die Versuchsteilnehmer sollten nun entweder den Film einfach nur passiv anschauen oder bei bestimmten im Film erscheinenden Objekten – entweder Mensch oder Auto – eine Taste drücken. Mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) zeichneten die Forscher währenddessen die Hirnaktivität der Probanden auf. Bei ihrer Auswertung ermittelten sie, wie sich rund 50.000 einzelne Voxel – dreidimensionale Messpunkte in der Hirnrinde – bei den verschiedenen Aufgabenstellungen veränderten.
Aufgabenverteilung verschiebt sich radikal
„Die Ergebnisse zeigen, dass unser Gehirn viel dynamischer ist als bisher gedacht“, erklärt Cukur. Denn bei der Suche nach einer konkreten Objektkategorie – beispielsweise Mensch – verschiebt sich die gesamte Aufgabenverteilung der Nervenzellen in der Hirnrinde: Neuronen, die normalerweise beim Anblick von Gebäuden, Werkzeugen oder Geräten feuern, werden nun vorübergehend auf Autos angesetzt, Nervenzellen, die sonst für Tiere, Pflanzen, Verben oder bestimmte Materialien zuständig sind, reagieren nun auf den Anblick eines Menschen.
Diese Umwidmung betreffe nicht nur das Sehzentrum, sondern auch viele andere Hirnbereiche, berichten die Forscher. Die größten Veränderungen seien im präfrontalen Kortex zu beobachten, der Hirnregion, die für abstraktes Denken, Planung und komplexe mentale Aufgaben zuständig sei. „Die visuelle Suche nach einer Objektkategorie verzerrt und verschiebt den gesamten semantischen Raum – die kartenähnliche Verteilung der Kategorien in unserer Hirnrinde“, erklären die Forscher. So bekommt beispielsweise die Kategorie Mensch mehr Ressourcen, weiter entfernte, unähnliche dagegen schrumpfen.
Erst dieser Prozess ermöglicht die volle Konzentration auf die anspruchsvolle Aufgabe, aus der Vielzahl der Eindrücke genau das herauszufiltern, was wir gerade suchen, so Cukur und seine Kollegen. Von einem vielseitigen für alle Eindrücke offenen Empfänger werde das Gehirn in diesem Moment zu einem hochspezialisierten Sensor nur für die gesuchte Kategorie. (Nature Neuroscience, 2013; doi: 10.1038/nn.3381)
(Nature Geoscience / University of California in Berkeley, 22.04.2013 – NPO)