Ein ständiges Klingeln, Rauschen oder Summen – solche lästigen Ohrgeräusche sind typisch für Tinnitus. Jetzt haben US-Forscher festgestellt: Wer an Tinnitus leidet, dessen Gehirn verarbeitet auch emotionale Eindrücke auf andere Weise. Es leitet Gefühlsreize um und aktiviert völlig andere Hirnareale. Diese neu entdeckte Wechselwirkung könnte auch neue Wege der Behandlung von Tinnitus eröffnen, so die Forscher.
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Rund drei bis vier Millionen Menschen leiden allein in Deutschland an Tinnitus: Sie hören ein ständiges Rauschen im Ohr, ein schrilles Pfeifen oder konstantes Summen. Dieses ständige akustische Störfeuer hat Folgen: Viele Betroffenen leiden unter Schlafproblemen, können sich nur noch schwer konzentrieren und leiden unter Stresssymptomen, Depression und andern psychischen Folgeerscheinungen. Umgekehrt kann Stress, beispielsweise durch Überarbeitung, das Störgeräusch auch auslösen oder verschlimmern.
Phantomgeräusche aus dem Gehirn
Das perfide an diesem Leiden: Die Geräusche existieren eigentlich gar nicht, es sind Phantomklänge, die von unserem eigenen Gehirn produziert werden. Dieses versucht damit den Ausfall einer oder mehrerer Hörfrequenzen auszugleichen, beispielsweise weil ein Hörsturz oder anderes einige Haarzellen im Innenohr beschädigt hat. Vergleichbar ist diese Reaktion mit einem Toningenieur, der einen Regler hochschiebt, um einen in diesem Bereich besonders schlechten Empfang auszugleichen und dabei übersteuert.
„Wenn man ständig nervige Geräusche hört, die man nicht kontrollieren kann, dann ist es offensichtlich, dass das auch emotionale Folgen hat“, sagt die Sprach- und Gehörforscherin Fatima Husain von der University of Illinois in Urbana-Champaign. Ob und wie sich dadurch auch die Verarbeitung von Emotionen in unserem Gehirn ändert, haben sie und ihre Kollegen nun erstmals genauer untersucht. „Denn dazu gibt es bisher kaum veröffentlichte Ergebnisse“, so die Forscherin.
Kinderlachen im Hirnscanner
Die Wissenschaftler führten ihre Studie an drei Gruppen von Versuchspersonen durch: normal Hörenden ohne Tinnitus, an Tinnitus-Patienten und an Schwerhörigen ohne Tinnitus. Allen Probanden spielten sie jeweils kurze Geräusche vor, die entweder neutrale Assoziationen wecken, wie beispielsweise das zischende Öffnen einer Sprudelflasche, oder Geräusche, die positive oder negative Emotionen wecken, darunter das Weinen oder Lachen eines Kindes.
Die Teilnehmer sollten durch Drücken eines Knopfes anzeigen, in welche der drei Kategorien sie diese Geräusche einordneten. Währenddessen zeichneten die Forscher ihre Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) auf. So konnten sie feststellen, welche Hirnareale wann besonders stark reagierten.
Wie sich zeigte, gab es tatsächlich deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen: Hörten die gesunden Probanden emotionale Geräusche, begann wie erwartet ihre Amygdala zu feuern. Dieses Hirnareal gilt als Sitz grundlegender Emotionen wie Angst, Erregung oder Glück. Bei den Tinnitus-Patienten fiel diese Reaktion sehr viel schwächer aus, wie die Forscher berichten. Dafür aber wurden überraschenderweise zwei andere Hirnareale bei ihnen aktiv, der Parahippocampus und die Insula, die bei den gesunden Probanden kaum reagierten.
Überraschende Umleitung
Dies überraschte selbst die Forscher: „Wir haben erwartet, dass Tinnitus-Patienten eher eine höhere Aktivität in der Amygdala zeigen würden, denn das ständige Ohrgeräusch wirkt sich ja auch auf die Emotionen aus“, sagt Husain. Doch offensichtlich hat sich das Gehirn durch raffiniertes Umstrukturieren an das ständige Generve angepasst: Es regelt die Sensibilität der Amygdala herunter, damit das Ohrgeräusch nicht ständig negative Gefühle auslöst. Emotionale Reize von außen werden dafür in andere Hirnareale umgeleitet, um diese „Abstumpfung“ zu kompensieren, so die Schlussfolgerung der Forscher.
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Netzwerk, das Gefühle verarbeitet, bei Tinnitus-Patienten verändert ist“, konstatieren Husain und ihre Kollegen. Ihrer Ansicht nach sollte diese komplexe Wechselwirkung von Tinnitus und der Verarbeitung von Emotionen auch bei künftigen Therapien und Strategien bei der Behandlung von Tinnitus berücksichtigt werden. Möglicherweise eröffnen sich dadurch neue Wege, um Patienten mit diesem chronischen Ohrgeräusch das Leben zu erleichtern. (Brain Research, 2014, doi: 0.1016/j.brainres.2014.04.024)
(University of Illinois, 27.06.2014 – NPO)