In die Black Box geschaut: Bestimmte Merkmale unseres Gehirns können Aufschluss über unser biologisches Alter geben – und damit auch über mögliche Abweichungen vom rein chronologischen Alter. Eine Studie verrät nun, an welchen Merkmalen künstliche neuronale Netzwerke unser „Hirnalter“ erkennen. Die Ergebnisse zeigen, dass einige dieser Faktoren eng mit dem Gesundheitszustand verknüpft sind. Das könnte dazu beitragen, künstliche Intelligenz zukünftig noch gezielter in die medizinische Diagnostik einzubinden.
Sie können Gesichter erkennen, Texte in Bilder umsetzen und vieles mehr: Künstliche Intelligenzen haben ein immer breiter werdendes Anwendungsspektrum. Auch im medizinischen Bereich kommen die selbstlernenden Algorithmen zunehmend zum Einsatz. So können sie beispielsweise Krebszellen identifizieren oder anhand von Hirnscans das Alter unseres Gehirns abschätzen. Das Problem dabei: Auf welche Weise die künstlichen neuronalen Netzwerke zu ihrem Ergebnis kommen, lässt sich meist von außen nicht nachvollziehen – die KI gleicht einer Black Box.
Der KI auf die Finger geschaut
Ein Team um Simon Hofmann vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig hat nun diese Black Box geöffnet: Mit Hilfe eines Interpretationsalgorithmus analysierten sie, wie die Altersschätzungen zustande kommen, die KI-Systeme aufgrund von Hirnscans abgeben. „Wir können nun genau bestimmen, welche Regionen und Merkmale des Gehirns für ein höheres oder niedrigeres biologisches Alter sprechen“, erklärt Hoffmann.
Das Ergebnis: Die künstlichen neuronalen Netze analysieren für ihre Vorhersagen unter anderem die Struktur der weißen Substanz, also des Nervengewebes im Gehirn. Kleine Risse und Vernarbungen sind dabei Hinweise auf ein höheres biologisches Alter. Zudem beziehen sie ein, wie breit die Furchen der Großhirnrinde sind und wie groß die mit Hirnwasser gefüllten Ventrikel.
Das Interessante dabei: Aus früheren Studien ist bekannt, dass ältere Personen im Schnitt breitere Furchen und größere Ventrikel im Gehirn haben. Die neuronalen Netzwerke dagegen hatten diese Information nicht vorab. In ihrer Trainingsphase standen ihnen lediglich die Hirnscans und die wahren Lebensjahre der Person zur Verfügung. Daraus haben sie offenbar selbstständig die gleiche Schlussfolgerung gezogen wie menschliche Forschende.
Hirnalter erlaubt Rückschlüsse auf Gesundheit
Doch welchen Nutzen haben solche KI-basierten Altersschätzungen? Will man das Alter einer Person herausfinden, kann man sie schließlich einfach danach fragen. Relevant wird es aber, wenn die Schätzung des biologischen Alters vom tatsächlichen Alter der Person abweicht. „Natürlich kann man eine erhöhte Altersschätzung auch als Fehler des Modells interpretieren,“ sagt Hofmanns Kollegin Veronica Witte. „Wir konnten aber zeigen, dass diese Abweichungen biologisch bedeutsam sind.“
Unter anderem zeigte die Forschungsgruppe, dass Menschen mit Diabetes mehr Läsionen in der weißen Substanz aufweisen – was die künstliche Intelligenz als Zeichen für ein erhöhtes Hirnalter deutet. Auch erste Anzeichen von Alzheimer führen dazu, dass das geschätzte biologische Hirnalter steigt. Die Altersschätzungen des Algorithmus könnten somit dazu beitragen, frühzeitig auf neurologische Erkrankungen aufmerksam zu werden.
Unterstützung in der Diagnostik
Das Wissen darum, auf Basis welcher Faktoren die künstliche Intelligenz zu ihrer Einschätzung kommt, macht sie für den medizinischen Einsatz deutlich wertvoller. Denkbar wäre beispielsweise, dass der Algorithmus in Zukunft nicht nur die Hirnscan-Bilder automatisch analysiert, sondern auch die Bereiche markiert, auf deren Basis er zu einem bestimmten Ergebnis gekommen ist. „Die Medizinerin bekommt dann nicht nur Rückmeldungen, dass womöglich bestimmte Erkrankungen vorliegen. Sie sieht auch, welche Bereiche im Gehirn den Diagnosen zugrunde liegen“, erklärt Hofmann.
Würden die entsprechenden Merkmale direkt im MRT-Bild markiert, könnten menschliche Behandler mit ihrer eigenen Expertise bewerten, wie schwer eine potenzielle Erkrankung ist. Außerdem könnten sie Fehldiagnosen des KI-Systems unmittelbar aufdecken – etwa, wenn das Ergebnis auf biologisch unplausiblen Bereichen beruht, die auf Fehler beim Erstellen des Bildes zurückgehen. Auf diese Weise kann der Interpretationsalgorithmus auch dabei helfen, die Genauigkeit der künstlichen neuronalen Netzwerke selbst zu verbessern.
In einer Folgestudie will das Forschungsteam nun genauer untersuchen, warum die Modelle auch auf Merkmale im Gehirn schauen, die bislang in der Altersforschung kaum eine Rolle spielten – beispielsweise die Struktur des Kleinhirns. Wie Alterungsprozesse bei gesunden und erkrankten Menschen dort voranschreiten, ist bislang wissenschaftlich nicht erforscht. (Neuroimage, 2022, doi: 10.1016/j.neuroimage.2022.119504)
Quelle: Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften