Phantomgeräusch im Ohr: Forscher haben Neues zu den Ursachen von Tinnitus herausgefunden. Demnach entsteht dieses Rauschen und Pfeifen erst durch das fehlerhafte Zusammenspiel von zwei verschiedenen neuronalen Prozessen. Der erste ist ein Verstärkungsmechanismus für schwache Signale, bei dem ein internes Rauschen entsteht. Der zweite Prozess ist die Neigung des Gehirns, Wahrnehmungen vorwegzunehmen. Bei einem Tinnitus führt beides zusammen dazu, dass das Gehirn das selbst erzeugte Rauschen als echten Hörreiz interpretiert.
Es klingelt, rauscht oder piept – rund 15 Prozent aller Menschen leiden unter einem Tinnitus. Diese anhaltenden Störgeräusche entstehen jedoch nicht im Ohr, sondern im Gehirn. Ähnlich wie Halluzinationen oder der Phantomschmerz sind sie neuronal bedingt. Auffallend ist dabei, dass der Tinnitus oft mit einem Hördefizit in den Frequenzen einhergeht, in dem auch das Rauschen oder Pfeifen auftritt. Umgekehrt leiden aber längst nicht alle Patienten mit Hörverlusten unter den Störgeräuschen.
Ursachensuche mithilfe von KI
Welche Ursachen der Tinnitus hat, ist noch unklar. Einige Wissenschaftler vermuten, dass eine Übererregbarkeit der Hörschaltkreise im Hirnstamm und der Hörrinde dahintersteckt. Andere sehen im Tinnitus eher ein Versagen der Filter, die normalerweise unwichtige oder störende Geräusche ausblenden.
Jetzt haben Forschende um Achim Schilling vom Universitätsklinikum Erlangen mehr über die möglichen Ursachen von Tinnitus herausgefunden. Für ihre Studie analysierten sie verschiedene Erklärungsmodelle mithilfe einer künstlichen Intelligenz. „In unserem Ansatz kombinieren wir künstliche Intelligenz, Kognitionsforschung und experimentelle Neurowissenschaften, um ein neues Modell der Phantomwahrnehmung zu entwickeln“, so das Team.
Wenn das Gehirn Reize vorwegnimmt
Mithilfe dieser KI-gestützten Analysen identifizierten Schilling und sein Team zwei zentrale Prozesse, deren fehlerhaftes Zusammenspiel wahrscheinlich den Tinnitus auslöst. Der erste Prozess, die sogenannte prädiktive Codierung, ermöglicht es dem Gehirn, eingehende Reize basierend auf früheren Erfahrungen vorherzusagen und zu interpretieren. Dadurch kann es beispielsweise undeutliche Seheindrücke oder nur halbgehörte Sprachfetzen ergänzen und so die Wahrnehmung verbessern.
Doch bei einem Tinnitus irrt dieser prädiktive Optimierungsprozess des Gehirns: Gängigen Modellen zufolge interpretiert es dann ein Rauschen oder Pfeifen in unseren Höreindruck hinein, der gar nicht existiert.
Eigenrauschen als Verstärker
Das aber ist noch nicht alles: Wie Schilling und sein Team feststellten, kommt ein zweiter Prozess dazu, der nicht vom verarbeitenden, oberen Ende des neuronalen Hörprozesses kommt, sondern eher von seinem Anfang: Die adaptive stochastische Resonanz sorgt dafür, dass wir schwache Signale besser wahrnehmen, indem sie ein zusätzliches Rauschen hinzufügt. „Die Idee dahinter ist, dass diese Addition eines unabhängigen Geräusches das Signal verstärkt und so über die Wahrnehmungsschwelle hebt“, erklären die Wissenschaftler.
Gängiger Annahme nach tritt dieses „Verstärkerrauschen“ besonders stark dann auf, wenn die Hörsinneszellen im Innenohr geschädigt sind und wir deshalb in bestimmten Frequenzbereichen nicht mehr gut hören. Um diese Hörschwäche und die damit einhergehende Abschwächung der Reizsignale auszugleichen, erzeugt die adaptive stochastische Resonanz vermehrt eigene Geräusche.
Die Kombination erzeugt den Tinnitus
Dem neuen, kombinierten Modell zufolge entsteht Tinnitus durch die Kombination beider Prozesse: Die adaptive stochastische Resonanz erzeugt ein Verstärkerrauschen, das dann von der prädiktiven Codierung irrtümlich als realer Hörreiz interpretiert wird. Durch diese Kombination von Top-Down und Bottom-Up-Prozessen in der Hörbahn kommt das Phantomgeräusch des Tinnitus zustande. Gleichzeitig könnte dies auch erklären, warum Tinnitus oft mit einer Überempfindlichkeit gegenüber leisen Tönen einhergeht: Das Gehirn verstärkt auch diese schwachen echten Signale anomal stark.
„Unsere Erkenntnisse erklären, wie neurale und mentale Aspekte der Wahrnehmung, der Kognition und des Verhaltens zur Entwicklung eines Tinnitus beitragen“, schreiben Schilling und seine Kollegen. „Dies könnte nicht nur Strategien zur Behandlung oder zumindest Abschwächung des Tinnitus aufzeigen, sondern erhellt auch, wie die Hörwahrnehmung allgemein im Gehirn abläuft.“ (Brain, 2023; doi: 10.1093/brain/awad255)
Quelle: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg