Selektiver als gedacht: Wissenschaftler haben neue Einblicke in die Wirkungsweise von Narkosemitteln gewonnen. Sie beobachteten erstmals genauer, wie sich Anästhetika und Benzodiazepine an Rezeptoren anlagern und deren Struktur verändern. Die Erkenntnisse könnten dazu beitragen, dass der Einsatz dieser Medikamente zukünftig gezielter und mit weniger Nebenwirkungen möglich ist.
In Krankenhäusern sind Narkosen längst alltäglich und trotzdem gibt es noch viele offene Fragen. Auch wie Anästhetika genau wirken, ist bislang erst in Teilen aufgeklärt. So entdeckten Forscher erst Anfang des 21. Jahrhunderts, dass die eingesetzten Medikamente am sogenannten GABAA-Rezeptor wirken. Diese Andockstellen im Gehirn und Rückenmark
sind maßgeblich mitverantwortlich für Bewegungsabläufe und unseren Schlaf.
„Anästhetika gehören nach wie vor zu den klinisch wichtigsten, aber auch geheimnisvollsten Medikamentenklassen“, sagt Seniorautor Ryan Hibbs von der University of Texas. „Wir sind aus Neugierde auf die Funktionsweise der Vollnarkose in diese Studie gegangen – und jetzt sind wir der Beantwortung dieser Frage einen großen Schritt nähergekommen.“
Ionenfluss beeinflusst Hirnaktivität
Bekannt ist, dass es sich bei den GABAA– Rezeptoren um Membrakanäle handelt, die für Chlorid- und Hydrogencarbonat-ionen durchlässig sind. Die Durchlässigkeit kann durch den Neurotransmitter GABA (γ-Aminobuttersäure) erhöht werden. Dieser Anstieg löst Müdigkeit oder sogar Bewusstlosigkeit aus. In der Medizin gibt es viele Medikamente, die diese Funktionsweise gezielt nutzen. Dazu gehören zum Beispiel Propofol, Phenobarbital, Diazepam oder auch Valium.
Sie ermöglichen eine Narkose oder tiefe Beruhigung. Doch diese Mittel können Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Erbrechen hervorrufen. Um dies in Zukunft zu verringern, ist es nötig die genaue Wirkungsweise der unterschiedlichen Medikamente auf den Rezeptor zu verstehen.
Narkosemittel binden an unterschiedlichen Stellen des Rezeptors
Dies haben Hibbs, Erstautor Jeong Joo Kim und ihr Team nun genauer beleuchtet. Für ihre Studie gaben sie den GABAA– Rezeptor in eine Lösung, der sie die Anästhetika wie Propofol, und Phenobarbital oder Beruhigungsmittel wie Diazepam zusetzten. Mittels Cryo-Elektronenmikroskopie konnten sie dann mitverfolgen, wo und wie sich diese Wirkstoffe an den Rezeptor anlagerten.
Durch ihre Untersuchungen stellten die Wissenschaftler fest, dass Allgemeinanästhetika und Diazepam an mehrere verschiedenen Stellen des GABAA-Rezeptors andocken. Auch innerhalb der Narkosemittel gab es dabei Unterschiede, so dockte Phenobarbital an anderen Stellen an als Propofol.
Chance für die Entwicklung selektiver Medikamente
Gerade darin liegt ein Vorteil. „Die Tatsache, dass es Unterschiede in den Bindungsstellen gibt, lässt uns hoffen, dass wir in der Lage sein könnten, spezifischere Moleküle zu schaffen, die nur an eine Stelle auf dem GABAA-Rezeptor binden“, sagt Hibbs. „Das bietet einen Ansatzpunkt für bessere, selektivere Anästhetika.“
Die Forscher konnten außerdem eine Stelle lokalisieren, an die ausschließlich das Diazepam band und eine andere Stelle, an der sowohl Diazepam als auch Allgemeinanästhetika reagierten. Dass Diazepam bei ausreichender Dosis an der gleichen Stelle bindet, wie Anästhetika, war für die Forscher besonders interessant. Es könnte erklären, warum hohe Dosen von Benzodiazepinen bei Patienten eine narkoseähnliche Wirkung entfalten.
Konformation des Rezeptors ändert sich
„Wir haben festgestellt, dass der GABAA-Rezeptor besonders empfindlich auf seine Umgebung reagiert“, sagt Kim. „Er kann seine Konformation auf verschiedene Weise verändern – je nachdem, welcher Wirkstoff an ihn bindet.“
So ergab die Strukturanalyse, dass sich beim Einsatz von Anästhetika eine Version des GABAA-Rezeptors stabilisierte, die Ionen leichter durchließ als üblich. Diazepam hingegen stabilisiert eine zwischengeschaltete Rezeptorstruktur, die Ionen weniger leicht durchlässt als bei den Narkosemedikamenten. Dies könnte zukünftig für die Benzodiazepin-Dosierung bei Angstzuständen, Epilepsie und Schlaflosigkeit eine Rolle spielen.
„Dies ist nur eine Grundlage“, sagt Hibbs. „Durch die weitere Erforschung anderer Klassen von Medikamenten, die mit diesem Rezeptor interagieren, können wir einen noch vollständigeren dreidimensionalen Bauplan des GABAA-Rezeptors und seiner Pharmakologie erhalten.“ (Nature, 2020; doi: 10.1038/s41586-020-2654-5)
Quelle: University of Texas Southwestern Medical Center