Last, but not least: Ein internationales Team hat erstmals den kompletten DNA-Code des männlichen Geschlechtschromosoms sequenziert – es ist die erste lückenlose Kartierung des Y-Chromosoms. Sie ergänzt seine bisher bekannte Sequenz um rund 30 Millionen Basenpaare und 41 proteinkodierende Gene. Außerdem zeigt es die Basenabfolge vieler medizinisch wichtiger Genkomplexe und -kopien. Mit der kompletten Sequenzierung des Y-Chromosoms ist nun das gesamte menschliche Genom lückenlos kartiert.
Das männliche Geschlechtschromosom ist das kleinste und genärmste Chromosom des Menschen. Im Laufe der Evolution hat es fast 90 Prozent seiner Erbinformation verloren. Dennoch ist das Y-Chromosom nicht entbehrlich: Es kontrolliert die Geschlechtsentwicklung und Spermienproduktion des Mannes und trägt auch Gene, die für die Meiose, die Reifeteilung der Zellen, wichtig sind. Jüngste Studien deuten zudem daraufhin, dass der Verlust des Y-Chromosoms in manchen Zellen älterer Männer das Risiko für Herzerkrankungen, Krebs und weitere Krankheiten erhöht.
Warum das Y-Chromosom kompliziert ist
Doch trotz dieser Bedeutung war das Y-Chromosom bisher der einzige Teil unseres Genoms, der noch nicht vollständig sequenziert wurde – das X-Chromosom und der Rest des Erbguts sind seit 2022 lückenlos kartiert. Von ihm waren zwar die wesentliche Gene bekannt, rund die Hälfte seines DNA-Codes blieb aber unsequenziert. Der Grund dafür ist die komplexe, aus ungewöhnlich vielen sich wiederholenden Abschnitten aufgebaute Struktur des männlichen Geschlechtshormons. In ihm häufen sich auch Palindrome – lange Abschnitte, deren DNA-Code exakt spiegelbildlich zueinander kopiert ist.
Die früher gängigen Sequenzierungsmethoden erlaubten es nicht, solche kopierten oder sehr ähnlichen Abschnitte auszulesen und in der korrekten Reihenfolge wiederzusammenzusetzen. Dank technischer Fortschritte können Sequenzierungen inzwischen jedoch bis eine Million Basenpaare lange Abschnitte am Stück lesen. Dies ermöglicht es, auch Erbgutteile mit vielen identischen Wiederholungen zu entschlüsseln. Beim Zusammenfügen der DNA-Fragmente kommt zudem inzwischen auch künstliche Intelligenz zum Einsatz.
30 Millionen zuvor unkartierte Basenpaare
Mithilfe dieser Methoden ist es nun dem Telomere-to-Telomere (T2T) Consortium gelungen, auch das Y-Chromosom vollständig zu sequenzieren. „Die resultierende Kartierung umfasst alle 62,46 Millionen Basenpaare des Y-Chromosoms ohne Lücken oder per Modell ergänzte Sequenzen“, berichten Arang Rhie vom National Human Genome Research Institute (NHGRI) in Bethesda und seine Kollegen. Die Sequenzierung ergänzt damit die bisher bekannten DNA-Abschnitte dieses Chromosoms um rund 30 Millionen Basenpaare.
Die neu sequenzierten Abschnitte umfassen 41 proteinkodierende Gene sowie unzählige Palindrome und wiederholte Sequenzen. „Die größte Überraschung war dabei, wie geordnet diese Repeats sind“, sagt Konsortiumsleiter Adam Phillippy vom NHGRI. „Wir wussten vorher nicht, wie die fehlenden Abschnitte genau aufgebaut sind, sie hätten sehr chaotisch sein können. Stattdessen besteht fast die Hälfte dieses Chromosoms aus abwechselnden Blöcken von zwei spezifischen, sich wiederholenden Sequenzen, auch als Satelliten-DNA bekannt. Sie erzeugen ein schönes, Quilt-ähnliches Muster.“
Ursachen für Unfruchtbarkeit besser diagnostizierbar
Die vollständige Sequenzierung des Y-Chromosoms enthüllt auch einige Eigenheiten in medizinisch wichtigen Abschnitten. Eine davon betrifft die sogenannte Azoospermia-Faktor-Region – eine Region, die mehrere für die Spermienproduktion wichtige Gene enthält. In dieser zeigte die Sequenzierung mehrere Palindrome.
„Diese Struktur ist sehr wichtig, weil solche Palindrome manchmal Schleifen im DNA-Strang erzeugen können“ erklärt Rhie. „Wenn diese Schleifen versehentlich abgetrennt werden, kann dies zu Gendefekten im Genom führen.“ Solche DNA-Verluste in der Azoospermia-Faktor-Region sind dafür bekannt, die Spermienproduktion bei den betroffenen Männern zu stören und Unfruchtbarkeit zu verursachen. Dank der nun bekannten Sequenzen dieser Region lassen sich solche Verluste künftig leichter identifizieren.
Individuelle Varianten in Kopienkomplexen
Ein weiterer medizinisch bedeutsamer Teil des Y-Chromosoms ist der sogenannte TSPY-Array. Er umfasst das ebenfalls für die Spermienproduktion wichtige TSPY-Gen und unzählige seiner Kopien. Zusammen bilden sie den zweitgrößten Kopienkomplex des gesamten menschlichen Erbguts. Die neue Sequenzierung zeigt nun erstmals die genaue Basenabfolge dieses TSPY-Arrays und auch, dass die Zahl der Kopien bei verschiedenen Männern zwischen zehn und 40 variieren kann.
„Wenn man solche zuvor nicht bekannten Varianten findet, ist immer die Hoffnung da, dass dies dabei hilft, die menschliche Gesundheit besser zu verstehen“, sagt Phillippy. „Medizinisch relevante Genomvarianten könnten uns auch helfen, in Zukunft bessere Diagnosemethoden zu entwickeln.“ Ähnlich sieht es Co-Autor Dylan Taylor von der Johns Hopkins University in Baltimore: „Jetzt, wo wir diese 100-prozentig vollständige Sequenz des Y-Chromosoms haben, können wir zahlreiche genetische Variationen identifizieren und erforschen, die uns zuvor entgangen sind und die menschliche Merkmale und Krankheiten beeinflussen könnten“, so Taylor.
Y-DNA in Bakteriengenomen
Die lückenlose Entschlüsselung des Y-Chromosoms brachte jedoch auch eine weitere, gänzlich unerwartete Entdeckung: Als die Forschenden ihre neu erstellten DNA-Sequenzen mit denen einer großen Datenbank bakterieller Genome verglichen, stießen sie auf überraschend viele Übereinstimmungen. Mehr als 5100 der in der Datenbank enthaltenen Bakteriengenome enthielten kurze Abschnitte aus dem Code des menschlichen Y-Chromosoms.
„Das war überraschend“, sag Rhie. Zwar werden Bakteriengenome nach dem Entschlüsseln routinemäßig auf mögliche Kontaminationen durch menschliche DNA überprüft. Bei solchen Tests können aber nur die menschlichen DNA-Schnipsel entdeckt werden, deren Sequenz bekannt ist – und das galt für weite Teile des männlichen Geschlechtschromosoms nicht. Erst durch die aktuelle Sequenzierung auch der Lücken in der DNA-Karte des Y-Chromosoms lassen sich diese Verunreinigungen nun identifizieren. (Nature, 2023; doi: 10.1038/s41586-023-06457-y)
Quelle: NIH/ National Human Genome Research Institute, Johns Hopkins University