Bisher gab es für diesen Verdacht aber keinen experimentellen Beweis. Sano und sein Team haben den Zusammenhang von Y-Chromosom-Verlust und Krankheiten deshalb genauer untersucht. Für ihre Studie veränderten sie das Genom von alternden Mäusen so, dass diesen in zwei Dritteln ihrer weißen Blutkörperchen das Y-Chromosom fehlte – ähnlich wie bei mLOY. Die Forschenden testeten dann, ob und wie dies die Funktion des Herzens und anderer Organe in den folgenden Monaten beeinflusste.
Verstärkte Vernarbung des Herzgewebes
Tatsächlich zeigte sich ein Effekt: Anders als ihre unbehandelten Altersgenossen entwickelten die mLOY-Mäuse schneller eine altersbedingte Herzschwäche und starben früher. Nähere Analysen ergaben, dass die Tiere verstärkt unter einer Fibrose litten – Vernarbungen am Herzen, die die Funktion des Herzmuskels beeinträchtigen. Auch in den Lungen und Nieren der mLOY-Mäuse fanden die Forschenden 15 Monate nach dem Y-Chromosom-Verlust vermehrt fibrotische Verwachsungen.
Damit zeigten die Mäuse ähnliche Symptome und Leiden, wie sie auch bei älteren Männern mit mosaikartigem Y-Chromosomen-Verlust vermehrt auftreten. „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Mäuse die typischen Aspekte des mLOY-Phänotyps rekapitulieren“, schreiben Sano und sein Team. Der Verlust des Y-Chromosoms in den weißen Blutkörperchen reichte bei diesen Tieren aus, um sie im Alter kränker zu machen.
Aber warum? Eine genauere Untersuchung des Herzgewebes zeigte, dass die Vernarbung durch Makrophagen mit Chromosomenverlust ausgelöst wird: Diese weißen Blutkörperchen aktivieren im Herzgewebe den Wachstumsfaktor TGF-beta1, der Entzündungen und die Fibrose fördert. Als die Forschenden diesen Wachstumsfaktor durch einen monoklonalen Antikörper blockierten, verringerten sich auch die Vernarbungen bei den mLOY-Mäusen.
Auch beim Menschen nachweisbar
Was aber bedeutet dies für ältere Männer? Sind diese Befunde auf den Menschen übertragbar? Um das zu prüfen, werteten Sano und sein Team Daten einer britischen Langzeitstudie aus. Bei 223.338 über 50-jährigen Teilnehmern der UK Biobank untersuchten sie, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Anteil der Y-Chromosomen-freien weißen Blutkörperchen und dem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Todesfälle gab.
Das Ergebnis: „Männer mit einem höheren Anteil von weißen Blutkörperchen mit mLOY haben ein höheres Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben“, berichtet Koautor Lars Forsberg von der Universität Uppsala in Schweden. „Dies stimmt mit den Ergebnissen im Mausmodelle überein und deutet daraufhin, dass mLOY auch beim Menschen eine direkte physiologische Wirkung hat.“
Ansatzpunkt für Prävention und Therapie
Damit liefert diese Studie eine experimentelle Bestätigung dafür, dass der Verlust des Y-Chromosoms in Blutzellen die Gesundheit von Männern beeinträchtigen kann. „Unsere Resultate sprechen dafür, dass mLOY kausal zur Fibrose, Störungen der Herzfunktion und Sterblichkeit von Männern beiträgt“, konstatieren Sano und sein Team. Ähnlich sieht es auch Hartmut Geiger von der Universität Ulm: „Eine mögliche Verbindung hatte man schon vorher vermutet. Neu und sehr überzeugend an dieser Studie ist, dass es gelang, einen kausalen Zusammenhang tatsächlich nachzuweisen“, kommentiert der nicht zum Autorenteam gehörende Mediziner.
Das Wissen um die kausalen Zusammenhänge eröffnet nun neue Chance, die schädlichen Effekte des Y-Chromosomen-Verlusts zu verhindern. Sano und sein Team konnten an ihren Mäusen bereits zeigen, dass ein bereits gegen Lungenfibrose beim Menschen zugelassenes Medikament auch die Vernarbungen am Herzen der mLOY-Mäuse verringerte. Die so behandelten Tiere lebten dadurch länger. Ob das auch bei Männern mit mLOY funktioniert, müssen nun klinische Studien zeigen.
Folgen auch für andere Organe?
Sano und sein Team haben sich in ihrer Studie primär auf die Auswirkungen des Y-Chromosomen-Verlusts für das Herz konzentriert – wenngleich sie bei ihren Mäusen auch Folgen bei Lungen und Nieren und möglicherweise sogar das Gehirn nachweisen konnten: Alternde mLOY-Mäuse taten sich in Gedächtnistests deutlicher schwerer als ihre Altersgenossen.
Nach Ansicht von Elisabeth Zeisberg von der Universitätsmedizin Göttingen legt dies nahe, dass der Verlust des männlichen Y-Chromosoms in Blutzellen auch anderswo im Körper Schäden anrichten kann: „Es ist gut möglich, dass diese Studie eine Vorreiterstudie für viele weitere sein wird und nur die Spitze des Eisbergs aufzeigt bei der Frage, welche Rolle Mosaik-Chromosomenverluste in Stammzellen für die Pathogenese verschiedener Organe spielen.“, kommentiert die nicht an der Studie beteiligte Forscherin. (Science, 2022; doi: 10.1126/science.abn3100)
Quelle: University of Virginia Health System
15. Juli 2022
- Nadja Podbregar