Anomalie bleibt, die vierte Neutrinosorte nicht: Mehr als ein Jahrzehnt war strittig, ob es vielleicht eine vierte, sterile Neutrino-Sorte gibt oder nicht. Jetzt haben Ergebnisse des eigens zur Überprüfung dieser Hypothese durchgeführten STEREO-Experiments die Existenz dieser Teilchen widerlegt. Nach drei Jahren der Messung blieb zwar eine Anomalie in der detektierten Neutrinomenge bestehen, diese lässt sich aber nicht mit der Umwandlung der Neutrinos in eine vierte Sorte erklären, so die Physiker in „Nature“.
Neutrinos sind schwer fassbar: Die unter anderem beim radioaktiven Zerfall, in der Sonne und bei energiereichen kosmischen Ereignissen entstehenden Elementarteilchen sind nahezu masselos und wechselwirken kaum mit normaler Materie. Nach dem Standardmodell der Teilchenphysik gibt es drei Sorten von Neutrinos: das Elektron-Neutrino, das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino. Diese können jedoch durch die sogenannte Oszillation im Flug von einem Typ in den anderen wechseln.
Rätselhafte Anomalien
Doch seit dem Jahr 2011 geben Anomalien in Neutrinomessungen in Forschungsreaktoren Rätsel auf. Denn bei den radioaktiven Beta-Zerfällen kommen regelmäßig rund sechs Prozent weniger Antineutrinos in den Detektoren an, als es eigentlich sein müssten. Einige Physiker sehen darin ein Indiz für die Existenz einer vierten, nicht im Standardmodell erfassten Neutrinosorte. Anders als die anderen Sorten sollen diese sterilen Neutrinos nicht über die schwache Kernkraft wechselwirken und daher mit herkömmlichen Methoden nicht nachweisbar sein.
Seither ist strittig, ob es diese sterilen Neutrinos gibt, weil auch Experimente widersprüchliche Daten liefern. So hat das MiniBOONE-Experiment in den USA in einigen Messungen Anomalien bei Neutrino-Oszillationen nachgewiesen, in anderen dagegen nicht. Der IceCube-Neutrino-Detektor am Südpol konnte hingegen keine Indizien für sterile Neutrinos bei den von ihm eingefangenen Neutrinos finden.
STEREO-Experiment bestätigt Anomalie…
Um die Frage der sterilen Neutrinos endgültig zu klären, wurde 2017 das STEREO-Experiment am Kernforschungsreaktor des Instituts Laue-Langevin in Grenoble gestartet. In ihm fangen sechs identische Detektoren die Antineutrinos ein, die bei radioaktiven Betazerfällen von Uran-235 entstehen. Wenn es sterile Neutrinos und Antineutrinos gibt, müssten in diesen neun bis elf Meter vom Testreaktor aufgestellten Detektoren weniger Antineutrinos registriert werden, als es die Modelle vorhersagen.
Jetzt haben die Physiker der STEREO-Kollaboration ihre Resultate vorgestellt. Sie beruhen auf mehr als 107.000 Antineutrinos, die während der Laufzeit des Experiments detektiert worden sind. „Das STEREO-Experiment liefert die bisher präzisesten Messungen des Antineutrino-Spektrums aus der Uran-235-Zerfall“, konstatiert das Team. Aber auch in ihren Daten stellten sie eine Anomalie fest: Es kamen rund 5,5 Prozent weniger Antineutrinos im Detektoren an als vom Modell vorhergesagt.
…aber nicht die sterilen Neutrinos
Doch sind sterile Neutrinos der Grund für diese Diskrepanz? Genau dies widerlegt nun das STEREO-Experiment mit hoher Sicherheit. Denn wäre eine Umwandlung einiger Elektron-Antineutrinos in sterile Neutrinos die Ursache, müssten die sechs in unterschiedlich großen Abständen zum Reaktor aufgestellten Detektoren positionsabhängige Verzerrungen in ihrer Energieverteilung zeigen. Doch das war nicht der Fall. „Die STEREO-Daten stehen demnach in starkem Widerspruch zu sterilen Neutrinos als Erklärung für die Anomalien“, so die Physiker.
Das bedeutet: Es ist nach diesen Daten nahezu ausgeschlossen, dass es diese vierte, sterile Neutrinosorte gibt. Die Ergebnisse stützen damit das Standardmodell der Teilchenphysik und die dort beschriebene Existenz von nur drei verschiedenen Neutrinos. „Damit beerdigt das STEREO-Experiment mit seiner beeindruckenden Präzision diese Hypothese, öffnet aber das Feld für andere“, kommentiert der nicht an der Studie beteiligte Physiker Jun Cao vom Institut für Hochenergiephysik in Peking. „Die Suche nach einer Erklärung geht weiter.“
Ursache liegt woanders
Die Physiker der STEREO-Kollaboration führen die von ihnen gemessenen Anomalien auf einen Fehler in den als Referenz verwendeten Zerfallsmodellen zurück. „Unsere Ergebnisse bestätigen eine aktuelle globale Analyse aller an Reaktoren gesammelten Neutrinodaten“, erklärt das Team. „Diese deutet auf einen Normalisierungsfehler im Beta-Spektrum des Uran-235-Zerfalls hin.“ Die Abweichungen von Experiment und Vorgaben beruhen demnach nicht auf den Messungen, sondern auf unterschätzten Unsicherheiten im Referenzmodell.
Ob das wirklich der Fall ist, werden künftige Analysen und Messungen klären müssen. Das jetzt mit STEREO ermittelte Antineutrino-Spektrum soll darüber hinaus künftig als Referenzspektrum für Hochpräzisions-Reaktorexperimente dienen, etwa für die Bestimmung der Massenhierarchie von Neutrinos oder die Überprüfung des Standardmodells bei niedrigen Energien. Darüber hinaus könnten Präzisionsmessungen dieser Art dazu beitragen, die Phänomene, die beispielsweise während einer Reaktorabschaltung auftreten, besser zu verstehen. (Nature, 2023; doi: 10.1038/s41586-022-05568-2)
Quelle: Nature, Max-Planck-Institut für Kernphysik