Neue Physik? Wissenschaftler haben das magnetische Moment des Elektrons so präzise gemessen wie nie zuvor – und damit die Basis für präzisere Überprüfungen des physikalischen Standardmodells geschaffen. Denn ihre Methode könnte erstmals präzise genug sein, um die schon beim schwereren Myon entdeckten Diskrepanzen zur gängigen Physik nun auch beim Elektron zu detektieren. Dafür müssten allerdings zunächst Widersprüche bei Messungen der Feinstrukturkonstante geklärt werden.
Das Standardmodell der Physik hat bisher allen Überprüfungen standgehalten. Trotzdem hat es entscheidende Lücken: Es kann weder die Natur der Dunklen Materie erklären, noch die Asymmetrie von Materie und Antimaterie oder die Dunkle Energie. In den letzten Jahren haben Physiker bei Experimenten zudem immer wieder verräterische Abweichungen von den theoretischen Vorhersagen beobachtet, unter anderem bei einigen Teilchenzerfällen, der Masse des W-Bosons und bei Quantenübergängen bestimmter Isotope. Dies könnte auf eine „neue Physik“ in Form noch unbekannter Teilchen oder Kräfte hindeuten.
Rätsel um den g-Faktor
Eine weitere Diskrepanz betrifft das magnetische Moment des Myons, eines zur gleichen Gruppe wie das Elektron gehörenden Teilchens. Bei diesem rund 200-mal schwereren Bruder des Elektrons haben Messungen signifikante Abweichungen im sogenannten g-Faktor des magnetischen Moments ergeben. Dieser g-Faktor, auch Landé-Faktor genannt, beschreibt, wie das durch Ladung, Masse und Spin geprägte magnetische Moment eines Teilchens durch quantenphysikalische Wechselwirkungen beeinflusst wird.
Auch das Elektron hat einen solchen g-Faktor des magnetischen Moments. Bisher reichte die Präzision der Messungen bei diesem viel leichteren Teilchen aber nicht aus, um auch beim Elektron mögliche Abweichungen zum Standardmodell aufzuzeigen. Denn der beim Myon sichtbare Effekt – so es ihn gibt – wäre beim Elektron rund 40.000-mal schwächer. Bisher lag dies unterhalb der Nachweisgrenze für gängige Messmethoden.
Eiskaltes Elektron in der Magnetfalle
Das hat sich nun geändert: Physiker unter Leitung von Gerald Gabrielse von der Northwestern University in Illinois haben eine neue Methode entwickelt, um das magnetische Moment des Elektrons zu messen. Die Messungen erreichen eine relative Präzision von 0,13 Billionsteln – damit lassen sich noch Abweichungen feststellen, die rund 3.000-mal kleiner sind als beim Myon gemessen.
Für die Messung wird ein einzelnes Elektron durch ein von allen Seiten wirkendes Magnetfeld in der Schwebe gehalten. In dieser Penning-Falle wird das Elektron dann bis auf 50 Millikelvin heruntergekühlt – wenige Gradbruchteile über dem absoluten Nullpunkt. Das Teilchen wird dadurch vorübergehend in den energiearmen Grundzustand gebracht, springt aber nach etwa einer Sekunde in den nächsthöheren Quantenzustand. Auf Basis dieses Sprungs können die Physiker den g-Faktor des Elektrons ermitteln.
„Triumph für die Grundlagenphysik“
Nach Abzug aller systemischen Einflussfaktoren und Unsicherheiten ergibt sich so der bisher genauere Wert für das magnetische Moment und den g-Faktor des Elektrons. Er liegt den Messungen zufolge bei g/2 = 1,001 159652 18059 (13). „Dieser neue Wert ist 2,2-mal genauer als der seit 14 Jahren bestehende beste Messwert für das magnetische Moment des Elektrons“, schreiben die Physiker. Er stimmt aber grundsätzlich mit diesen früheren Messungen überein.
„Diese Leistung des Teams der Northwestern University ist ein Triumph für die Grundlagenphysik“, kommentiert die nicht an der Studie beteiligte Physikerin Saïda Guellati-Khelifa von der Sorbonne Universität in Paris. „Die Messmethode ermöglicht einen beispiellos präzisen Test der Quantenelektrodynamik (QED). Noch nie war das Elektron so nah dran, das Fenster zur neuen Physik aufzustoßen.“ Denn mit der nun erreichbaren hohen Präzision rücken auch noch genauere Überprüfungen des magnetischen Moments und seiner möglichen Abweichungen in greifbare Nähe.
Es hakt noch bei der Feinstrukturkonstante
Voraussetzung ist allerdings, dass bei den theoretischen Werten nachgebessert wird. Denn bisher kranken die auf dem Standardmodell beruhenden Vorhersagen daran, dass es keine Einigkeit beim Wert für die Feinstrukturkonstante gibt. Die beiden bisher genauesten Messungen dafür weichen um 5,5 Standardabweichungen voneinander ab. Je nachdem, welchen der beiden Werte man den Berechnungen zugrunde legt, kommt man daher auch auf zwei verschiedene theoretische Werte für das magnetische Moment und den g-Faktor des Elektrons.
Der von Gabrielse und seinem Team ermittelte Messwert für den g-Faktor liegt genau zwischen den beiden theoretischen Werten. Gleiches gilt für die aus ihren Messungen ableitbare Feinstrukturkonstante: „Unser Wert differiert um 2,2 Standardabweichungen vom höheren Wert und um 3,9 Standardabweichungen vom niedrigeren“, berichten die Physiker. Insofern ist es trotz der präzisen Messungen schwer, eine eindeutige Diskrepanz zum Standardmodell nachzuweisen.
„Wenn aber die Diskrepanzen bei der Feinstrukturkonstante behoben sind, ermöglicht unsere neue Messgenauigkeit präzisere Tests des Standardmodells und seiner möglichen Erweiterungen“, konstatieren Gabrielse und seine Kollegen. (Physical Review Letters, 2023; doi: 10.1103/PhysRevLett.130.071801)
Quelle: American Physical Society (APS)