Verborgene Kaskade: Schon länger vermuten Physiker, dass bei Kollisionen in Teilchenbeschleunigern auch Neutrinos entstehen müssten – massearme, energiereiche Elementarteilchen, die kaum mit Materie wechselwirken. Jetzt hat ein Detektor am Large Hadron Collider (LHC) des Forschungszentrums CERN erstmals solche Beschleuniger-Neutrinos nachgewiesen. Physiker erhoffen sich von der Erforschung dieser besonders energiereichen Neutrinos mehr Aufschluss über mögliche Abweichungen vom Standardmodell.
Neutrinos sind rätselhaft und doch allgegenwärtig: In jeder Sekunde rasen Milliarden dieser Elementarteilchen durch unseren Körper, ohne dass wir dies merken. Denn Neutrinos sind extrem leicht und wechselwirken kaum mit Materie – sie werden deshalb auch als „Geisterteilchen“ bezeichnet. Bekannt ist, dass Neutrinos bei radioaktiven Zerfällen, in der Sonne und bei energiereichen kosmischen Ereignissen entstehen und dass sich ihre drei Sorten im Flug ineinander umwandeln können.
Mithilfe spezieller Neutrino-Detektoren wie dem IceCube am Südpol versuchen Wissenschaftler, vor allem die besonders energiereichen Neutrinos einzufangen und zu erforschen. Denn sie gelten als mögliche Anzeiger für eine Physik jenseits des Standardmodells – und könnten daher beispielsweise das Rätsel der Antimaterie oder der Dunklen Materie lösen helfen. Doch gerade die energiereichsten Neutrinos gehen den Detektoren nur selten in die Falle.
Fahndung im Seitentunnel des LHC
Eine Lösung für dieses Dilemma könnten Neutrinos aus Teilchenbeschleunigern bieten. Aus theoretischen Modellen geht hervor, dass bei den energiereichen Kollisionen im LHC und anderen Beschleunigern riesige Mengen an Neutrinos und Antineutrinos aller drei Sorten entstehen müssten. Das Problem jedoch: Diese energiereichen Neutrinos fliegen fast immer parallel zum Teilchenstrahl – und damit genau im blinden Fleck der gängigen Detektoren. Denn diese haben eine Aussparung für das Strahlrohr, damit der Teilchenstrahl ungehindert passieren kann.
„Dadurch sind diese Beschleuniger-Detektoren blind für den enormen Fluss der Hochenergie-Neutrinos, die das Strahlrohr entlang rasen“, erklärt das CERN. Abhilfe schafft seit Frühjahr 2021 das FASER-Experiment (ForwArd Search ExpeRiment) am LHC. Dieser Detektor ist in einem Seitentunnel des Beschleunigerrings installiert, der in Verlängerung der Strahlachse hinter dem ATLAS-Detektor liegt. Schwach wechselwirkende Teilchen, die dort kollidieren und dann geradeaus weiterfliegen, landen direkt in diesem Tunnel – und damit im neuen Detektor.
Erster Nachweis gelungen
Weil der FASER-Detektor Platten aus dem schweren Element Wolfram enthält, kommt es trotz der nur schwachen Wechselwirkungen der Neutrinos mit Materie zu Kollisionen mit den Wolframatomen. Dabei entstehen als Sekundärteilchen Myonen, die mit dem FASER-Detektor und dessen Spektrometer nachweisbar sind. Für ihre Studie haben die Physiker der FASER-Kollaboration jetzt Daten ausgewertet, die ihr Detektor bei Protonenkollisionen zwischen Juli und November 2022 aufgezeichnet hat.
Und tatsächlich: Von den Milliarden Neutrinos, die in dieser Zeit durch den FASER-Detektor gerast sind, hinterließen 153 Teilchen messbare Spuren. Zum ersten Mal ist es Physikern damit gelungen, energiereiche Neutrinos auch in einem Teilchenbeschleuniger nachzuweisen. „Schon nach kurzer Laufzeit hat FASER damit ein beeindruckendes Ergebnis geliefert “, sagt Matthias Schott von der Universität Mainz. FASER-Gruppenleiter Florian Bernlochner von der Universität Bonn ergänzt: „Die von FASER entdeckten Neutrinos sind die energiereichsten, die jemals in einem Labor erzeugt wurden.“
Chance für die Suche nach „neuer Physik“
Die Neutrinos aus dem LHC eröffnen den Physikern die Chance, die sonst nur selten eingefangenen energiereichen Neutrinos näher zu erforschen. „Sie können uns etwas über den Weltraum verraten, was wir auf andere Weise nicht erfahren können“, sagt Koautor Tobias Böckh von der Universität Bonn. „Neben Neutrinos, die im Standardmodell der Teilchenphysik vorkommen, wollen wir damit hauptsächlich solche Teilchen suchen, die über das Standardmodell hinausgehen – allen voran die mysteriöse dunkle Materie.“
Ein solcher Hinweis auf neue Physik könnten beispielsweise Anomalien in den Anteilen der drei Neutrinosorten sein. Sie könnten auf bisher unerkannte Wechselwirkungen oder Teilchen hindeuten. In Folgestudien wollen die Forschenden deshalb weitere Eigenschaften der von FASER detektierten Neutrinos untersuchen. (57. Moriond Conference, Physical Review Letters, accepted)
Quelle: CERN, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn