Schlieren aus schnellen Teilchen: Physiker haben erstmals nachgewiesen, dass auch amorphes Glas schon unterhalb des Gefrierpunkts ein Oberflächenschmelzen zeigt. Dabei entwickelt sich an der Oberfläche des festen Materials ein dünner Film aus hochgradig mobilen – flüssigen – Teilchen. Überraschend jedoch: Diese schnellen Teilchen breiten sich in die Tiefe aus und bilden eine schlierige Schicht mit sowohl festen wie flüssigen Eigenschaften. Dies ist ein bisher neues Phänomen.
Seit dem Jahr 1842 ist bekannt, dass die Oberfläche von Wassereis selbst bei Temperaturen deutlich unter dem Gefrierpunkt immer einen hauchdünnen Wasserfilm aufweist. Er lässt uns auf Eis ausrutschen und klebt Schneebälle zusammen. Inzwischen haben Physiker die Ursache für dieses Oberflächenschmelzen geklärt und es auch bei anderen kristallinen Festkörpern nachgewiesen. Demnach befinden sich die Moleküle in der Grenzschicht in metastabilen Übergangszuständen von Sublimation und Gefrieren.
Kolloides Glas als Testfall
Unklar war jedoch bisher, ob es dieses Oberflächenschmelzen auch bei Gläsern gibt – Materialien, die anders als Kristalle beim Erstarren kein geordnetes Gitter bilden, sondern amorph bleiben. Anders als bei Kristallen unterscheidet sich die Struktur ihrer flüssigen Grenzschicht in der Röntgenstreuung nicht vom festen Rest des Glases. Der Theorie zufolge müssten auch solche amorphen Gläser ein Oberflächenschmelzen zeigen, nachweisen ließ es sich aber bisher nicht.
Doch das ist nun Li Tian und Clemens Bechinger von der Universität Konstanz gelungen. Weil die Atome von echtem Glas zu klein sind, um ihr Verhalten direkt zu untersuchen, nutzten sie für ihr Experiment ein kolloides Glas. Dieses Material besteht aus zwei bis drei Mikrometer kleinen Glaskügelchen in einem speziellen Lösungsmittel und verhält sich wie normales Glas. Anders als bei diesem lassen sich die Teilchen des kolloiden Glases aber unter dem Mikroskop beobachten.