Ob Higgs-Boson, die kosmische Ursuppe oder das World Wide Web: Sie alle verdanken ihre Entdeckung dem europäischen Kernforschungszentrum CERN. Und auch der Krebstherapie würden heute ohne das CERN wichtige Helfer fehlen. Vor 70 Jahren, am 29. September 1954, wurde das „Mekka der Teilchenphysik“ bei Genf gegründet. Heute ist es Heimat des LHC, des größten Teilchenbeschleunigers der Welt, und Forschungsort für mehr als 17.000 Wissenschaftler weltweit.
Nirgendwo sonst lassen sich Teilchen mit so gewaltiger Energie aufeinander schleudern und nirgendwo sonst resultieren aus diesen Kollisionen so viele Daten und Informationen zu den kleinsten Bausteinen der Materie und den Kräften, die jedes Atom, aber auch den gesamten Kosmos zusammenhalten und prägen: Unweit des Genfer Sees, inmitten der sanft hügeligen Landschaft des schweizerisch-französischen Vorjura, liegt das Forschungszentrum CERN – eines der weltweit wichtigsten Zentren für die Erforschung der Teilchenwelt und der Grundkräfte unseres Universums.
Von der Gründung zum ersten Nobelpreis
Vor 70 Jahren, am 29.September 1954, wird das CERN gegründet – zunächst als gemeinsame Forschungseinrichtung von zwölf Ländern, darunter auch Deutschland. 1957 geht mit dem Synchrocylotron der erste Beschleunigerring in Betrieb – er kann Protonen auf 600 Megaelektronenvolt Energie bringen. Schon einen Monat später machen Physiker mit seiner Hilfe die erste Entdeckung: Sie weisen den Zerfall eines Pions in ein Elektron und ein Neutrino nach.
1959 folgt das Proton-Synchrotron – ein 628-Meter-Ring, der Protonen bis auf 24 Gigaelektronenvolt beschleunigt. Er speist bis heute die großen Teilchenbeschleuniger und an ihm wird unter anderem das Antideuteron entdeckt, ein Antimaterie-Teilchen aus einem Antiproton und einem Antineutron. 1971 kollidieren in einer erweiterten Anlage zum ersten Mal Protonen miteinander. 1976 folgt der sieben Kilometer-Ring des Super Proton Synchrotron (SPS).
1983 entdecken Physiker des CERN zwei entscheidende Bausteine der Physik: das W-Boson und das Z-Boson, die gemeinsam die Trägerteilchen der schwachen Kernkraft und damit einer der vier Grundkräfte sind. Noch im gleichen Jahr gibt es dafür den Physik-Nobelpreis.
Die Geburtsstunde des Internets
1989 schlägt am CERN die Geburtsstunde des World Wide Web – die Basis für unser heutiges Internet. Der Physiker Tim Berners-Lee entwickelt erstmals die Bausteine, die das Internet prägen: das System der URLs, die Auszeichnungssprache HTML und das Transferprotokoll http. Auch das System der Verlinkungen, die Webserver und der Browser gehen auf Lee zurück. Im gleichen Jahr beginnt am CERN der Large Electron Positron Collider (LEP) seinen Betrieb – mit 27 Kilometer Durchmesser ist er bereits der größte je gebaute Beschleunigerring.
1995 erzeugen Physiker zum ersten Mal Antimaterie-Atome in Form des Antiwasserstoffs – er ist bis heute eine wichtige Basis für die Suche nach dem Merkmal, das der Materie nach dem Urknall die Oberhand verlieh. Im Jahr 2000 folgt ein weiterer Durchbruch: Bei Schwerionen-Kollisionen im SPS erzeugen CERN-Physiker erstmals ein Quark-Gluon-Plasma, den Materiezustand, der direkt nach dem Urknall herrscht – eine Art kosmischer Ursuppe.
Der LHC und das Higgs
Im Jahr 2008 startet am CERN die Ära des Large Hadron Collider (LHC), des größten Teilchenbeschleunigers der Welt. In dieser „Weltmaschine“ lassen sich Protonen und Schwerionen auf fast Lichtgeschwindigkeit und die enorme Energie von inzwischen gut sieben Teraelektronenvolt (TeV) beschleunigen. Von supraleitenden Magneten auf ihrer Bahn gehalten, rasen die Teilchenpakete in zwei Strahlen in gegenläufiger Richtung durch die 27 Kilometer lange Kreisbahn des LHC, um dann in den vier großen und mehreren kleinen Detektoren des LHC zu kollidieren.
2012 ist dann soweit: Mit dem Higgs-Boson weisen die Physiker am LHC das seit Jahrzehnten gesuchte Teilchen nach, das allem seine Masse verleiht. Ohne das Higgs-Feld und das mit ihm verknüpfte Boson sähe unsere Welt völlig anders aus – wenn es sie überhaupt gäbe. Der Nachweis des Higgs-Bosons schließt damit eine der großen Lücken im Standardmodell der Teilchenphysik und bestätigt eine schon in den 1960er Jahre postulierte Theorie. 2013 erhalten die noch lebenden Begründer dieser Theorie dafür den Physik-Nobelpreis.
Entdeckungen auch mit praktischem Nutzen
Neben all diesen Entdeckungen und Einblicken in die Grundlagen Physik sind am CERN aber auch Erkenntnisse und Methoden mit ganz praktischem Nutzen entstanden. So wurden hier die Voraussetzung für die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) entwickelt, eine für die Diagnose von Krebstumoren und anderen krankhaften Veränderungen im Körper wichtigen Methode. Auch die Bestrahlung in der Krebstherapie, bei der Positronen und Schwerionen zum Einsatz kommen, wurde erst durch die Entdeckungen am CERN möglich.
„Die Errungenschaften des CERN in seiner 70-jährigen Geschichte zeigen, was die Menschheit leisten kann, wenn wir unsere Differenzen beiseitelegen und uns auf das Gemeinwohl konzentrieren. In den letzten sieben Jahrzehnten war das CERN dadurch an der Spitze wissenschaftlicher Erkenntnisse und technologischer Innovation, ein Modell für Ausbildung und Bildung, Zusammenarbeit und offene Wissenschaft und eine Inspiration für Menschen auf der ganzen Welt“, sagt CERN-Generaldirektorin Fabiola Gianotti in einem Statement zum Jubiläum.
Die Geschichte geht weiter
Doch die Geschichte des CERN und seiner Entdeckungen ist noch lange nicht abgeschlossen: Bis heute entdecken Physiker in den Teilchenspuren des LHC, aber auch in anderen Anlagen des CERN immer neue Hinweise auf exotische Teilchen und vielleicht sogar eine Physik jenseits des bestehenden Standardmodells. Heute sind 24 Länder am CERN beteiligt und zehntausende Forschende aus aller Welt arbeiten daran, die hier generierten Daten zu analysieren.
Quelle: CERN