Chemie

Hat Wasser doch keine zwei Dichtevarianten?

Erster Attosekunden-Blick auf Wassermoleküle widerlegt "Gemisch aus zwei Flüssigkeiten"

Wassermoleküle
Forschende haben erstmals die Reaktion von Wasser auf Röntgenpulse im Attosekunden-Takt gemessen. Ein erster Attosekundenpuls (rot) regt die Elektronen der Wassermoleküle an, der zweite Puls (grün) zeigt die ausgelösten Veränderungen. © Stacy Huang

Keine Doppelnatur: Forschende haben erstmals das Verhalten von angeregten Wassermolekülen im Attosekunden-Tempo beobachtet. Dies enthüllte, dass flüssiges Wasser wohl doch nicht aus einem Gemisch zweier Strukturvarianten verschiedener Dichte besteht. Der vermeintliche Beleg dafür – ein Doppelgipfel in den spektrometrischen Röntgenkurven – erwies sich in den neuen, zeitlich höher aufgelösten Messungen als eine Art Bewegungsunschärfe der Wasserstoffatome, wie das Team in „Science“ berichtet.

Wasser ist ebenso allgegenwärtig wie rätselhaft. Denn es hat fast 70 exotische Eigenheiten, darunter die Dichteanomalie, die Eigendissoziation und die hohe Wärmekapazität ebenso wie die „klumpige“ Molekülverteilung im flüssigem Wasser. Auch die Fähigkeit der Wassermoleküle, 18 verschiedene kristalline und mehrere amorphe Eisvarianten zu bilden, macht Wasser zu einem echten Exoten. Im amorphen Wassereis bilden die Moleküle einen glasartig ungeordneten, aber dennoch festen Verbund. Dieser kommt in unterschiedlichen Dichtevarianten vor.

Dichtevarianten des Wassers
Röntgenanalysen legten 2017 nahe, dass auch flüssiges Wasser in zwei Dichtevarianten vorkommen könnte. © Gesine Born/ DESY

Zwei Flüssigkeiten in einer?

Und nicht nur das: 2017 entdeckten Physiker bei Röntgenanalysen von langsam aufgetauten Proben des amorphen Wassereises etwas noch Erstaunlicheres. Das Auftreten von zwei Gipfeln in ihrer spektroskopischen Röntgenkurve schien darauf hinzudeuten, dass auch flüssiges Wasser in zwei Dichtevarianten vorliegt. Wasser könnte demnach ein Gemisch aus zwei chemisch identischen Flüssigkeiten mit zwei verschiedenen Strukturvarianten sein – so die Schlussfolgerung

Das Problem jedoch: Die für die Analysen eingesetzte Röntgen-Emissionsspektroskopie (XES) kann das Verhalten der Wassermoleküle nur mit einer zeitlichen Auflösung von mehreren Femtosekunden abbilden. Dadurch blieb unklar, ob dieser als 1b1 bezeichnete Doppelgipfel wirklich auf verschiedene Dichtevarianten hindeutet oder aber einfach nur zwei aufeinanderfolgende Zustände derselben Wassermoleküle.

Messungen im Attosekunden-Takt

Mehr Aufschluss liefert nun eine neue Methode, die erstmals das Verhalten der Wassermoleküle bis in den Attosekunden-Bereich zeitlich auflösen kann. Dies ermöglicht es, die schnellen Veränderungen sichtbar zu machen, die Elektronen und Atome in diesen Molekülen bei Anregung durchlaufen. „Wir demonstrieren das erste Attosekunden-Puls/Attosekunden-Messsystem in einem System mit kondensierter Phase – flüssigem Wasser“, berichten Seniorautorin Linda Young vom Argonne National Laboratory in den USA und ihre Kollegen.

Wassermessung
Für die Attosekunden-Messungen setzten die Forschenden diesen ultradünnen Wasserstrahl den schnellen Röntgenpulsen aus. © Emily Nienhuis/ Pacific Northwest National Laboratory

Das Besondere daran ist, dass bei diesen Messungen sowohl die für die energetische Anregung der Wassermoleküle genutzten Röntgenpulse als auch die Messpulse für die spektroskopische Erfassung der Veränderungen im Attosekunden-Bereich liegen. „Wir haben damit ein Werkzeug, mit dem man die Bewegung von Elektronen und die Bildung von ionisierten Molekülen quasi in Echtzeit verfolgen kann“, sagt Young.

Für ihre Messungen nutzte das Team um Young und Erstautor Shuai Li den Röntgenlaser LCLS des SLAC National Accelerator Laboratory in Kalifornien. Er gehört zu den wenigen leistungsstarken Röntgenquellen weltweit, die Attosekundenpulse erzeugen können. Seine Pulse richtete das Team auf einen extrem dünnen Wasserfilm.

Bewegungseffekt statt Strukturvariante

Die Messungen enthüllten: Der auffällige Doppelgipfel in den Spektroskopie-Kurven der früheren Röntgenmessungen hat eine andere Ursache als angenommen. „Was die Leute in den vorhergehenden Experimenten gesehen haben, war eine Unschärfe, die durch die Bewegung von Wasserstoffatomen entstand“, erklärt Young. „Wir konnten diese Bewegung eliminieren, weil unsere Messungen fertig waren, bevor diese Atome Zeit hatten, sich in Bewegung zu setzen.“

Demnach löst das Eintreffen des energiereichen Röntgenpulses ein Elektron aus der äußeren Schale eines Sauerstoffatoms im Wassermolekül. Dieses rast dann durch das Wasser und kollidiert mit Elektronen anderer Moleküle, die es teilweise ebenfalls aus ihrem Atomorbital löst. „Der ganze Prozess kann als eine Serie von Ionisierungsschritten angesehen werden, erst durch das Photon, dann durch das herausgelöste Elektron“, erklären die Wissenschaftler.

Vor und während dieses Prozesses deutet jedoch nichts darauf hin, dass die Wassermoleküle verschiedene Strukturvarianten aufweisen. „Die experimentellen Daten zeigten keinen Hinweis auf die 1b1-Doppelstruktur“, berichten Young und ihr Team.

Kein Hinweis auf Doppelnatur des Wassers

Nach Ansicht der Forschenden spricht dies dafür, dass flüssiges Wasser – anders als zuvor angenommen – keine zwei Dichtevarianten besitzt. „Unsere Resultate klären damit eine langanhaltende Debatte über die Interpretation des 1b1-Röntgenemissions-Gipfelpaares“, schreiben Young und ihre Kollegen. Demnach sei dieser Doppelgipfel eine Folge der ultraschnellen Wasserstoffdynamik in den angeregten Zuständen, nicht aber ein Indiz für Strukturvarianten des Wassers.

Anders als amorphes Wassereis scheint flüssiges Wasser bei Raumtemperatur demnach keine zwei unterschiedlichen Dichtekonfigurationen zu besitzen. Und wenn es solche Strukturvarianten doch geben sollte, zeigen sie sich zumindest nicht in diesem Doppelgipfel, so das Team. Viel entscheidender sei jedoch, dass die für das Experiment eingesetzte Technik auch andere Fragen zur Reaktion von Molekülen auf Strahlung klären könnte.

„Die von uns entwickelte Methodik erlaubt es, die Entstehung und Entwicklung reaktiver Moleküle durch strahlungsbedingte Prozesse zu erforschen, beispielsweise bei der Krebsbehandlung, bei Weltraumflügen oder auch durch Strahlung in Atomreaktoren und durch Atommüll“, sagt Young. (Science, 2024; doi: 10.1126/science.adn6059)

Quelle: DOE/Pacific Northwest National Laboratory

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