Was waren die spannendsten Errungenschaften und Erkenntnisse der Physik in diesem Jahr? Das Magazin „Physics World“ hat die Top Ten für 2022 gekürt. Darunter sind das Tetraneutron, ultrakalte Moleküle und die Obergrenze optoelektronischer Schaltungen, aber auch das James-Webb-Teleskop und die DART-Mission der NASA, sowie ein Rekord bei der direkten Stromerzeugung durch Wärme und eine neuartige Protonentherapie gegen Krebs.
Jedes Jahr küren die Herausgeber des Magazins „Physics World“ die zehn wichtigsten Highlights des Jahres aus der Welt der Physik. Kriterien für die Auswahl: Die Arbeit muss bedeutend sein, das Wissen signifikant voranbringen, eine starke Verbindung zwischen Theorie und Experiment zeigen und von allgemeinem Interesse für alle Physiker sein.
Ein „unmögliches“ Teilchen
Der erste Eintrag unter den Top Ten ist dem Tetraneutron gewidmet – einem lang als unmöglich geltenden Teilchen aus nur vier Neutronen. Eigentlich widerspricht ein solches Teilchen gängigen Modellen der starken Kernkraft sowie dem Pauli-Ausschlussprinzip. Nach diesem können solche Elementarteilchen nicht im gleichen Zustand an derselben Stelle vorkommen. Dennoch vermuten Physiker seit 60 Jahren, dass es ein solches Gebilde aus vier schwach gebundenen oder zumindest in Resonanz miteinander stehenden Neutronen trotzdem geben könnte.
Im Juni 2022 könnte es Physikern gelungen sein, durch Herausschlagen eines Heliumkerns aus einem Helium-8-Isotop ein Ensemble aus vier Neutronen zu erzeugen. Die gemessene Energie dieser Teilchen spricht nach Ansicht des Teams dafür, dass es sich um ein Tetraneutron handeln könnte. Allerdings seien weitere theoretische und experimentelle Forschungen nötig.
Ultrakalte Moleküle und Strom aus Wärmestrahlung
Ins Reich des Ultrakalten führt ein weiteres Highlight des Jahres: Mehrere Physikerteams haben unabhängig voneinander Methoden entwickelt, um auch mehratomige Moleküle bis auf wenige Mikro- und Nanokelvin über den absoluten Nullpunkt herunterzukühlen. Ein Team nutzte dabei die Verdampfungskühlung kombiniert mit einem rotierendes Mikrowellenfeld, um polare Natrium-Kalium-Moleküle bis auf 21 Nanokelvin zu bringen. Ein weiteres Team verwendete Magnetfelder, um ein 100 Nanokelvin kaltes Gas aus triatomischen Natrium-Kalium-Molekülen zu erzeugen.
Um Wärme ging es stattdessen um einen neuen Rekord bei der direkten Stromerzeugung aus Wärme: Physiker vom MIT haben eine Thermo-Photovoltaik-Zelle entwickelt, die einen -Wirkungsgrad von 40 Prozent erreicht. Sie besteht aus einer Kombination der beiden Halbleiter Galliumarsenid und Gallium-Indiumarsenid und kann elektrischen Strom beispielsweise aus der solaren Wärmestrahlung, aber auch der Abwärme von Kraftwerken oder Industrieprozessen gewinnen.
Schnellste Schaltung und bester Halbleiter
Ebenfalls unter den Top Ten der Physik ist eine Studie, in der Forscher erstmals die Maximalgeschwindigkeit für optoelektronische Schaltungen ermittelt haben. Demnach liegt diese physikalisch bedingte Obergrenze bei rund einem Petahertz – einer Million Gigahertz – und ist damit rund hunderttausendmal schneller als die besten heutigen Transistoren. Selbst bei künftig optimierter Technologie kann die Petahertz-Grenze wahrscheinblich nicht überschritten werden.
Um ein mögliches Hightech-Materialien der Zukunft geht es bei einem weiteren Top-Ten-Eintrag: Zwei Physikerteams haben 2022 unabhängig voneinander entdeckt, dass kubisches Borarsenid einer der besten bekannten Halbleiter überhaupt ist. Schon länger war theoretisch vorhergesagt worden, dass dieses Material eine bessere thermische Leifähigkeit und Beweglichkeit der positiv geladenen Elektronenlöcher besitzen müsste als Silizium. Erst in diesem Jahr ist es jedoch gelungen, die dafür nötige Kristallstruktur des Borarsenids auch praktisch zu erzeugen.
Super-Teleskop und Asteroiden-Abwehr
Ins All geht es dagegen bei zwei weiteren Physik-Highlights des Jahres – beide Errungenschaften wurden auch schon vom „Science“-Magazin zu den Durchbrüchen des Jahres 2022 gewählt. Das erste ist das James-Webb-Weltraumteleskop, dessen scharfe Infrarotoptiken schon in den ersten Monaten seines Betriebs einzigartige Einblicke in den Kosmos geliefert hat, darunter Aufnahmen und Spektren der ältesten bekannten Galaxien, erste spektrale Analysen von Exoplaneten-Atmosphären und detailreiche Bilder von Sternenwiegen, Planeten und Galaxien.
Das zweite Weltraum-Highlight ist die DART-Mission der NASA. Bei dieser rammte eine kühlschrankgroße Raumsonde den 160 Meter großen Asteroidenmond Dimorphos und lenkte ihn dadurch aus seiner Bahn. Der Orbit des Mondes um seinen Mutterasteroid verkürzte sich dadurch um 32 Minuten. Diese kinetische Deflektion gilt als vielversprechende Methode, um einen Asteroiden auf Kollisionskurs mit der Erde abzulenken und so einen katastrophalen Einschlag zu verhindern.
Neuartige Strahlentherapie gegen Krebs
Unter den Top Ten der Physik ist auch eine neuartige Strahlentherapie gegen Krebs: In den USA hat eine erste klinische Studie mit der sogenannten FLASH-Protonentherapie vielversprechende Ergebnisse erbracht. Dabei wurden die Knochenmetastasen von zehn Krebspatienten mit einer extrem hohen Dosis energiereicher Protonen bestrahlt. Die Dosis der kurzen Pulse war dabei 300-mal höher als bei herkömmlicher Strahlentherapie, dennoch kam es zu weniger Gewebeschäden und Nebenwirkungen.
„Damit eröffnet die FLASH-Radiotherapie die Chance, hartnäckige Tumore mit höheren Strahlendosen zu behandeln als bisher möglich“, erklärt Studienleiter John Breneman von der University of Cincinnati. Dazu gehören unter anderem therapieresistente Krebstumore im Gehirn, den Lungen oder dem Verdauungstrakt. Weil dort das Gewebe aber besonders sensibel ist, wurde der erste klinische Test nun zunächst an Knochentumoren durchgeführt.
Manipulierte Strahlung und Gravitations-Effekt
Strahlung steht auch im Fokus eines weiteren Highlights: Physiker haben eine Beschichtung entwickelt, die selbst stark reflektierende Materialien transparent und durchlässig für elektromagnetische Strahlung machen kann. Das könnte beispielsweise nützlich sein, um den Mobilfunkempfang oder die WLAN-Reichweite in Gebäuden zu verbessern. Im umgekehrten Weg hat ein zweites Forscherteam eine fast perfekte Lichtfalle konstruiert. Eine geschickte Kombination aus Spiegeln und Linsen schluckt dabei jeden in die Falle gelangten Lichtstrahl durch gezielte Interferenz.
Abgerundet werden die Top Ten der Physik durch ein Experiment, das erstmals den sogenannten Aharonov-Bohm-Effekt auch bei der Gravitation nachgewiesen hat. Dieser Effekt beruht auf quantenphysikalischen Wechselwirkungen, durch die elektrische und magnetische Felder die Wellenphase eines geladenen Teilchen beeinflussen können. Die US-Forscher haben mithilfe einer Atom-Interferometrie nun beobachtet, dass auch die Schwerkraftwirkung einer nahen großen Masse diesen Effekt bewirken kann.
Quelle: Physics World