Fahndung im All: Wie lassen sich Einsteins Gravitation und die Quantenphysik unter einen Hut bringen? Zumindest einige Erklärungsmodelle für eine solche Quantengravitation haben Physiker nun ausgeschlossen. Als Prüfstein diente ihnen dabei die Oszillation von energiereichen kosmischen Neutrinos – Teilchen, die Milliarden Lichtjahre weit durchs All rasen. Messdaten des Neutrino-Detektors IceCube konnten keine quantenphysikalischen Störeffekte der Raumzeit auf die Neutrinos nachweisen.
Es ist eines der größten Probleme unseres physikalischen Weltbilds: Sowohl Einsteins Relativitätstheorie als auch die Quantenphysik erklären zwar viele Phänomene des Kosmos und der Physik. Doch beide lassen sich nicht auf eine gemeinsame Basis zurückführen. So erklärt Einstein die Gravitation mit einer Krümmung der Raumzeit, was das aber quantenphysikalisch bedeutet und welche Teilchen womöglich dahinterstehen, bleibt offen. Belege für konkurrierende Modelle einer Quantengravitation, darunter die Stringtheorie oder die Schleifenquantengravitation stehen bisher aus.
Neutrinos als „Fühler“ für die Quantengravitation
Jetzt ist es Physikern erstmals gelungen, mit Messungen zumindest in den Bereich vorzudringen, in dem sich ein Beweis für die Quantengravitation verbergen müsste. Möglich wird dies durch kosmische Neutrinos – schnelle, fast masselose Teilchen, die kaum mit Materie wechselwirken. Sie werden bei einigen der energiereichsten Prozesse im Kosmos frei, beispielsweise dem Tod eines Sterns in einem massereichen Schwarzen Loch.
„Solche Hochenergie-Neutrinos breiten sich im Vakuum des Alls ungestört über Milliarden von Lichtjahren aus und sind dabei sensitiv selbst für kleine Effekte einer neuen Physik“, erklären die Physiker der IceCube-Kollaboration. Wenn sich im Weltall Effekte der Quantengravitation bemerkbar machen – beispielsweise durch kleinste Störungen der Raumzeit – müssten die durch das Vakuum rasenden Neutrinos davon beeinflusst werden. Auf ihrem langen Weg könnten sich diese Einflüsse dann wiederum so summieren und verstärken, dass sie messbar werden.
Auf die „Flavours“ kommt es an
Konkret sagen Theorien voraus, dass die von der Quantengravitation verursachten Störeffekte die Neutrino-Oszillation verändern müssten. Denn die Teilchen kommen in drei Sorten – Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos – vor, die sich im Flug ineinander umwandeln können. Jede Neutrino-Sorte vereint dabei immer auch gewisse Anteile der beiden anderen Sorten in sich. Der Anteil der verschiedenen „Flavours“ und die Rate ihrer Umwandlung hängt von der Quelle, aber auch von Einflüssen auf dem Weg dieser Teilchen ab.
Die Physiker der IceCube-Kollaboration haben nun gezielt die Flavours von 60 kosmischen Neutrinos mit mehr als 60 Teraelektronenvolt Energie ausgewertet, die zwischen 2010 und 2018 vom IceCube-Neutrino-Detektor am Südpol eingefangen wurden. „Das Flavour-Verhältnis ist eine der stärksten Tests für neue Physik, weil das Soll fest im Standardmodell verankert ist“, erklärt Teammitglied Carlos Argüelles von der Harvard University. Das Team verglich daher die Anteile der detektierten Neutrino-Flavours mit dem theoretisch Erwarteten.
Keine Anomalien nachweisbar
Das Ergebnis: Die vom IceCube-Detektor eingefangenen kosmischen Neutrinos zeigten keine Abweichungen von der erwarteten Sortenverteilung. „Mit anderen Worten: Die Flavour-Messungen der Hochenergie-Nutrinos in IceCube stimmen im Rahmen der statistischen Unsicherheiten mit den Standard-Szenarien überein“, konstatieren die Physiker. Eindeutige Spuren einer neuen Physik oder der Effekte der Quantengravitation ließen sich demnach nicht finden.
„Damit schließen unsere Daten auch bestimmte Modelle der Quantengravitation aus, die Flavour-Zusammensetzungen jenseits dieser Standardregion verursachen müssten“, so die IceCube-Kollaboration. „Denn jede neue Struktur im Vakuum müsste detektierbare Anomalien in den Flavour-Raten erzeugen.“
Sensitiv genug für „neue Physik“
Gleichzeitig belegten die Analysen, dass solche Neutrino-Messungen prinzipiell sensitiv genug sind, um mögliche Effekte einer „neuen Physik“ aufzuspüren. „Wir haben die bisher stringentesten Limits aller bekannte Technologien gesetzt und eindeutig den Parameter-Raum erreicht, in dem sich physikalische Effekte der Quantengravitation bemerkbar machen müssten“, schreiben die Physiker. Wenn sich die Quantengravitation in der Raumzeit bemerkbar macht, müssten die Neutrino-Messungen sie daher nachweisen können.
Noch hat die Erforschung der Hochenergie-Neutrinos aber erst begonnen und auch der IceCube-Detektor wird stetig weiter ausgebaut. Das Physikerteam ist daher zuversichtlich, mithilfe dieser „Geisterteilchen“ künftig noch mehr zur Klärung der großen Fragen der Physik beitragen zu können. Denn die Methode eigne sich auch, um andere Formen neuer Physik zu überprüfen, darunter alternative Theorien zu Dunkler Energie und Dunkler Materie oder unerkannter Kräfte.
Vielversprechende Möglichkeiten sieht auch die nicht der Studie beteiligte Physikerin Giulia Gubitosi von der Universität Neapel: „Die von der IceCube-Kollaboration erreichte eindrucksvolle Sensitivität markiert einen Meilenstein in der Erforschung der Quantengravitation mit astrophysikalischen Neutrinos“, schreibt sie in einem begleitenden Kommentar. (Nature Physics, 2022; doi: 10.1038/s41567-022-01762-1)
Quelle: IceCube Neutrino Observatory