Noch mehr Schummeleien: Nach dem angeblichen Wundermaterial LK-99 erweist sich nun ein weiterer Raumtemperatur-Supraleiter als möglicher Betrug. Wegen erheblicher Zweifel hat „Nature“ einen Fachartikel zum stickstoffdotierten Lutetiumhydrid zurückgezogen – einem angeblich bei Raumtemperatur und nur einem Gigapascal Druck supraleitenden Material. Es ist schon die dritte Supraleiter-Studie des US-Physikers Ranga Dias, die sich als zweifelhaft erweist und widerrufen wurde. Andere Forscher befürchten nun, dass die gesamte Supraleiter-Forschung in Verruf gerät.
Es ist der heilige Gral der Festkörperphysik: Schon lange suchen Physiker nach einem Material, das bei Raumtemperatur und Normaldruck seinen elektrischen Widerstand verliert und supraleitend wird. Mit Metallhydriden wie Schwefelwasserstoff und Lanthanhydrid wurde in den letzten Jahren tatsächlich eine Stoffgruppe entdeckt, die schon bei gemäßigten Minustemperaturen und sogar fast bei Raumtemperatur supraleitend wird – allerdings funktioniert dies nur bei hohem Druck von mehr als 100 Gigapascal.
Angebliche Durchbrüche und erhebliche Zweifel
Doch in diesem Jahr sorgten gleich zwei Durchbrüche für Aufsehen: Im März 2023 berichtete ein Team um Ranga Dias von der University of Rochester in New York von einem Hydrid, das bei 20 Grad und dem relativ gemäßigten Druck von „nur“ einem Gigapascal supraleitend wird. Dabei handelte es sich um ein Lutetiumhydrid, dem Stickstoffatome als stabilisierende Verunreinigung hinzugefügt wurden. Im Juli 2023 folgte dann ein koreanisches Team, das mit dem Material „LK-99“ einen Supraleiter entdeckt haben wollte, der sogar bei Normaldruck und Raumtemperatur supraleitend wird.
Allerdings: Schon bei ihrer Veröffentlichung weckten beide Supraleiter-Studien erhebliche Zweifel in der Fachwelt. Im Falle des „Wundermaterials“ LK-99 erwiesen sich diese schnell als begründet: Bei Überprüfung des Materials durch mehrere Physikerteams zeigte sich, dass LK-99 weder ein Supraleiter ist, noch bei Raumtemperatur widerstandsfrei wird. Und auch beim stickstoffdotierten Lutetiumhydrid waren Physiker misstrauisch, denn Diaz musste schon zuvor Fachartikel wegen fehlerhafter oder ungenügend belegter Daten zurücknehmen.
Rücknahme auch beim Lutetiumhydrid
Jetzt haben sich auch diese Zweifel bestätigt: Das Fachmagazin „Nature“ hat vor wenigen Tagen die Publikation zum stickstoffdotierten Lutetiumhydrid zurückgezogen. Besonders gravierend daran: Anstoß für diesen Widerruf war ein Antrag von gleich acht Koautoren der Studie. „Als Forscher, die zu dieser Arbeit beigetragen haben, äußerten sie die Ansicht, dass der publizierte Artikel die Herkunft des untersuchten Materials, die experimentellen Messungen und die Datenverarbeitungs-Protokolle nicht korrekt widergibt“, berichtet „Nature“ in der Retraktionsmitteilung.
Mit anderen Worten: Selbst die engsten Mitarbeiter von Ranga Dias sind der Ansicht, dass die veröffentlichten Angaben zu diesem angeblichen Hochdruck-Raumtemperatur-Supraleiter nicht korrekt sind. „Hinzu kommen Zweifel von anderen Forschern bezüglich der Verlässlichkeit der elektrischen Widerstandsmessdaten in dieser Publikation“, so das Fachjournal. Eine Untersuchung habe seither ergeben, dass diese Zweifel glaubhaft, substanziell und bisher nicht ausgeräumt seien. Daher wurde die Publikation offiziell zurückgezogen. Dias und sein Co-Seniorautor Ashkan Salamat haben sich dazu bisher nicht geäußert.
Rückschlag für die Supraleiter-Forschung
Für die Suche nach einem echten Raumtemperatur-Supraleiter ist dies ein herber Rückschlag. Zum einen erweist sich damit ein hoffnungsvoller Ansatz – die gezielte Dotierung von Metallhydriden – als mögliche Sackgasse. Zum anderen gerät das gesamte Feld der Supraleiter-Forschung allmählich Verruf. „Ich habe einige Kollegen, die inzwischen die Befürchtung haben, dass der Fall Dias unser gesamtes Fachgebiet unter Generalverdacht stellt“, sagt Mikhael Eremets vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, in dessen Team das bei minus 23 Grad supraleitende Lanthanhydrid entdeckt wurde.
Andere Physiker berichten, dass es schwerer werde, junge Wissenschaftler für die Forschung an Supraleitern zu gewinnen. „Wir haben große Schwierigkeiten den Leuten begreiflich zu machen, dass das Forschungsfeld dennoch gesund ist – trotz einiger fauler Äpfel sind unsere Standards hoch“, berichtet Lilia Boeri von der Sapienza Universität Rom in „Nature News“. Andererseits sind die realen Fortschritte im Bereich der Supraleitung durchaus ermutigend – und der heilige Gral wartet noch auf seine Entdeckung. (Nature, 2023; Retraction Note)
Quelle: Nature, Nature News