Physik

Neutronen: Rätsel um Lebensdauer gelöst?

Ein noch unentdeckter angeregter Zustand könnte Diskrepanzen bei den Messungen erklären

Zerfall des Neutrons
Bei Messungen der Neutronen-Lebensdauer gibt es je nach Methode deutliche Unterschiede. Dies gibt Physikern schon seit 30 Jahren Rätsel auf. © TU Wien/ Oliver Diekmann

Materiebaustein mit Geheimnissen: Schon seit gut 30 Jahren rätseln Physiker über unerklärliche Diskrepanzen bei der Lebensdauer freier Neutronen – jetzt könnten sie den Grund gefunden haben. Demnach könnte das Neutron einen noch unentdeckten angeregten Zustand besitzen, in dem es ein wenig länger stabil bleibt als im Grundzustand. Das würde erklären, warum Messungen mit frischen, potenziell noch angeregten Neutronen längere Lebensdauern ermittelt haben als andere Methoden. Doch wie ließe sich dies nachweisen?

Das Neutron ist wie das Proton ein Baustein des Atomkerns – seine Anzahl bestimmt, welches Isotop eines Elements vorliegt. Neutronen entstehen aber auch beim radioaktiven Zerfall, der Kernfusion sowie in Supernovae und anderen energiereichen Prozessen im Kosmos. Ihr Verhalten ist daher für viele Fragen der Astronomie, Kosmologie und Grundlagenphysik entscheidend. Anders als die Neutronen im Atomkern sind solche freien Neutronen aber nicht stabil: Sie zerfallen nach rund 15 Minuten.

Neutron
Das Neutron ist außerhalb eines Atomkerns nur ungefähr 15 Minuten lang stabil, bevor es zerfällt. © Arpad Horvath / CC-by-sa 2.5

Rätselhafte Diskrepanzen

Doch ausgerechnet die Lebensdauer der Neutronen gibt Physikern Rätsel auf: „Seit gut dreißig Jahren wundert man sich über widersprüchliche Ergebnisse zu diesem Thema“, sagt Benjamin Koch von der TU Wien. Grundsätzlich gibt es zwei Methoden, um die Lebensdauer freier Neutronen zu messen: Die erste nutzt die radioaktiven Zerfälle in Atomreaktoren als Neutronenquelle. „Diese freien Neutronen kann man dann in einen Neutronenstrahl leiten und dort genau vermessen“, erklärt Koch. Die zweite Methode nutzt Neutronen, die mithilfe magnetischer Felder eingefangen und abgekühlt wurden.

Je nachdem, mit welcher Methode man die Neutronen-Lebensdauer misst, fallen die Ergebnisse unterschiedlich aus. Neutronen aus dem Strahl leben rund 8,6 Sekunden länger als solche aus der Magnetfalle. „Wie dieser Unterschied zu interpretieren ist, ist noch immer unklar“, berichten Koch und sein Kollege Felix Hummel. „Doch es gibt einige interessante Unterschiede zwischen den Methoden.“ Zum einen bewegen sich die Neutronen im Strahl schneller als in der Falle. Zum anderen misst man beim Neutronenstrahl frisch produzierte Teilchen, während die Neutronen in der Falle erst abgebremst, ausgerichtet und aufgereinigt werden.

Ein unbekannter neuer Zustand?

Genau dies hat die beiden Physiker auf eine mögliche Erklärung für die rätselhaften Lebensdauer.-Diskrepanzen gebracht: Wäre es möglich, dass manche Neutronen in einem angeregten, etwas energiereicheren Zustand vorliegen? Eine solche Anregung ist beispielsweise für Elektronen in der Atomhülle schon lange bekannt: Wenn Atome Energie aufnehmen, springen ihre Elektronen auf ein höheres Energieniveau. Dadurch ändert sich auch ihr Verhalten.

Für Neutronen steht der Nachweis solcher Anregungszustände aber noch aus. Doch nach Ansicht von Koch und Hummel könnten sie erklären, warum einige Neutronen länger zu leben scheinen als andere. Konkret vermuten sie: Wenn Neutronen durch radioaktiven Zerfall entstehen, bilden sie ein Gemisch aus Teilchen im angeregten und nicht angeregten Zustand. Erst nach und nach fallen die angeregten Neutronen wieder in den Grundzustand zurück. In der Magnetfalle ist dies bereits erfolgt und man misst daher nur die Lebensdauer der nicht angeregten Neutronen.

Neutronen-Lebensdauer
Wenn Neutronen im angeregten Zustand länger überdauern, könnte dies die Diskrepanzen erklären. Dann würden Neutronenstrahlmessungen dies noch erfassen (links), während Messungen in der Falle nur noch die Neutronen im Grundzustand sehen. In diesem Beispiel wurde die Zeit für das Zurückfallen in den Grundzustand (Tϒ) auf 4 Sekunden angesetzt.© Koch und Hummel/ Physical Review D, CC-by 4.0

Angeregte Neutronen leben länger

Das bedeutet: Die Diskrepanz in der gemessenen Lebensdauer liegt schlicht daran, dass man Neutronen in verschiedenen Anregungszuständen misst, wie Koch und Hummel erklären. „Laut unserem Modell hängt die Zerfallswahrscheinlichkeit eines Neutrons stark von seinem Zustand ab“, sagt Hummel. Demnach müssten Neutronen im angeregten Zustand ein wenig länger stabil bleiben als freie Neutronen im energieärmeren Grundzustand – das würde die Messunterschiede erklären.

„Der überzeugendste Beweis für unserer Hypothese wäre zweifellos die Beobachtung elektromagnetischer Übergänge von einem angeregten Neutron zu einem Neutron im Grundzustand“, konstatieren die Physiker. Theoretisch müsste das Neutron dabei die überschüssige Energie in Form von Gammastrahlung abgeben. „Unser Rechenmodell zeigt den Parameterbereich, in dem man suchen muss“, berichtet Koch.

Wie könnte man dies nachweisen?

„Die entscheidende Frage ist daher: Wenn solche angeregten Zustände des Neutrons existieren -warum hat man sie dann bisher nicht entdeckt? Schließlich haben zahlreiche Experimente schon die verschiedenen Merkmale freier Neutronen und ihrer Zerfälle untersucht“, schreiben Koch und Hummel. Ihrer Ansicht nach gibt es dafür zwei mögliche Erklärungen: Zum einen könnte die freigesetzte Energie unter der Nachweisgrenze dieser Experiment liegen. Zum anderen finden die Messungen bei solchen Experimenten oft erst statt, nachdem das Neutron schon wieder in den Grundzustand gefallen ist.

Die Physiker schlagen daher mehrere Möglichkeiten vor, um ihre Hypothese zu überprüfen. So könnte man Neutronenstrahl-Experimente in größerem Abstand von der radioaktiven Quelle durchführen. „Man kontrolliert dann, ob die gemessene Lebensdauer der Neutronen sich mit der Länge der Messstrecke verändert“, so das Team. Umgekehrt könnte man ein Fallenexperiment konzipieren, in dem die Zeit von der Neutronenproduktion bis zu ihrer Messung verkürzt wird – dann müssten auch in der Falle noch einige angeregte Neutronen vorhanden sein, die die gemessenen Lebensdauer verlängern.

Und als Drittes könnte man gezielt nach der Gammastrahlen-Emission suchen, die die in den Grundzustand zurückfallenden Neutronen abgeben. Dies könnte beispielsweise dort passieren, wo die Neutronen für die Fallenexperimente abgebremst und abgekühlt werden.

Die Fahndung läuft

Koch und Hummel sind bereits dabei, solche Experimente zu planen. Denn wie sie erklären, steht dem technisch nichts im Wege. Die Physiker stehen daher bereits in engem Austausch mit anderen Forschungsteams, unter anderem in der Schweiz und in den USA. Schon in naher Zukunft könnte sich daher zeigen, ob es beim Neutron wirklich einen noch unentdeckten angeregten Zustand gibt. Wäre das der Fall, könnte dies ein jahrzehntealtes Rätsel der Teilchenphysik lösen. (Physical Review D, 2024; doi: 10.1103/PhysRevD.110.073004)

Quelle: Technische Universität Wien

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