Umstrittener Durchbruch: Koreanische Physiker wollen den „heiligen Gral“ der Physik gefunden haben – einen Supraleiter bei Raumtemperatur und Normaldruck. Das LK-99 getaufte Material soll auch ohne Kühlung oder Druck Strom widerstandsfrei leiten. Allerdings: Fachkollegen haben erhebliche Zweifel, zumal das Paper noch nicht in einem Fachjournal veröffentlicht wurde. Zudem gab es schon mehrere angebliche Raumtemperatur-Supraleiter, die der Überprüfung durch andere Forschungsgruppen nicht standgehalten haben.
Ein Material, das Strom unter Alltagsbedingungen verlustfrei und ohne Widerstand leitet, könnte die Elektronik und viele weitere Technologien revolutionieren. Denn ein solcher Raumtemperatur-Supraleiter müsste nicht erst auf ultrakalte Temperaturen heruntergekühlt werden – man könnte ihn überall im Alltag einsetzen. Damit wäre das Abwärmeproblem von Computern passé, Elektromotoren würden effizienter arbeiten und Magnetschwebebahnen wären einfach und erschwinglich. Auch die auf supraleitenden Spulen basierenden Quantencomputer könnten kleiner und alltagstauglicher werden.
Wettlauf zum Raumtemperatur-Supraleiter
Der Raumtemperatur-Supraleiter gilt deshalb als ein „heiliger Gral“ der Festkörperphysik – Forschungsteams weltweit suchen danach. In den letzten Jahren haben Physiker tatsächlich erste Materialien entdeckt, die schon bei gemäßigter Kälte oder sogar knapp Raumtemperatur ihren Widerstand verlieren: Lanthanhydrid wird schon bei minus 23 Grad supraleitend und kohlenstoffhaltiges Schwefelhydrid sogar bei 15 Grad. Allerdings benötigen diese Metallhydride dafür den hohen Druck von mehr als hundert Millionen Atmosphären – zu viel für simple Alltagsanwendungen.
Doch im März 2023 gab es einen ersten Durchbruch – so schien es jedenfalls: Ein Team um Ranga Dias von der University of Rochester stellte einen Raumtemperatur-Supraleiter aus stickstoffdotiertem Lutetiumhydrid vor, der schon bei einem Gigapascal – rund 10.000 Atmosphären – seinen elektrischen Widersand verliert. Allerdings: Dias und sein Team haben einen zweifelhaften Ruf: 2022 mussten sie ihr Paper zum Schwefelhydrid zurückziehen und auch die Raumtemperatur-Supraleitung beim Lutetiumhydrid konnte bisher von keiner anderen Physikergruppe reproduziert werden.
LK-99: Raumtemperatur-Supraleiter sogar bei Normaldruck?
Jetzt gibt es einen weiteren Kandidaten für die Raumtemperatur-Supraleitung – und dieses Material soll sogar bei normalem Druck widerstandsfrei sein. Das berichtet ein koreanisches Forschungsteam um Sukbae Lee vom Quantum Energy Research Centre in Seoul. Sie wollen ein LK-99 getauftes Material hergestellt haben, das bei Zimmertemperatur und Normaldruck alle Merkmale eines Supraleiters zeigt. In einem Video zeigen sie sogar, wie dieses Material von einem starken Magnetfeld angehoben wird – diese magnetische Levitation gilt als ein Kennzeichen der Supraleitung.
Konkret handelt es sich bei dem neuen Supraleiter LK-99 um ein kupferdotiertes Bleiapatit – eine Verbindung aus Blei, Kupfer und Phosphaten. Dieses Material haben Lee und sein Team in einem vierschrittigen Prozess durch gemeinsames Zermahlen verschiedener Vorstufen mit jeweils folgendem Erhitzen im Vakuum hergestellt. Das Ergebnis ist ein dunkelgrauer, kristalliner Feststoff, den die Physiker dann verschiedenen Tests der elektrischen Leitfähigkeit und magnetischen Reaktion unterzogen.
Die Indikatoren: Verlust des Widerstands und Levitation
Nach Angaben der Forscher erfüllte LK-99 in diesen Tests alle Kriterien eines Supraleiters: Es zeigte bei Raumtemperatur und Normaldruck keinen elektrischen Widerstand, dieser supraleitende Bereich erstreckte sich den Messungen zufolge bis zu einer Temperatur von rund 127 Grad Celsius. Außerdem zeigte das Material den Meissner-Effekt: Wie für Supraleiter typisch lenkt es ein externes Magnetfeld vollständig ab und kann dadurch auf den Magnetfeldlinien schweben.
Die Physiker erklären die supraleitende Fähigkeit ihres Materials damit, dass im Laufe des Syntheseprozesses Blei-Ionen im Bleiphosphat-Kristallgitter durch die kleineren Kupfer-Ionen ersetzt werden. Dies verursache eine leichte Kontraktion des Materials um 0,48 Prozent und führe zu Spannungen im Material. „Der zweite Faktor ist eine abstoßende Coulomb-Wechselwirkung, die durch die strukturelle Deformation entlang der c-Achse der Struktur verstärkt wird“, so Lee und seine Kollegen.
Ihrer Ansicht nach beweist all dies, dass sie den ersten Raumtemperatur-Supraleiter unter Normaldruck entdeckt haben. „Unserer Ansicht nach ist diese Entwicklung damit ein historischer Durchbruch, der eine neue Ära für die Menschheit eröffnen könnte“, konstatiert das Physikerteam.
Große Skepsis bei Fachkollegen
Doch ganz so begeistert sind andere Physiker nicht – im Gegenteil: Viele Forschende sehen den angeblichen Durchbruch mit sehr großer Skepsis. Ein Kritikpunkt dabei: Bisher hat das koreanische Team seine Ergebnisse nicht in einem Fachjournal veröffentlicht, sondern nur in zwei Preprints, die noch keinerlei unabhängige Begutachtung durchlaufen haben. Und zumindest einer dieser beiden Fachartikel ist in seiner Datenbasis bestenfalls rudimentär und auch sprachlich wenig professionell.
Ein Physiker, Douglas Natelson of Rice University, berichtet auf Twitter/X, dass es zudem in den von Lee und Team veröffentlichten Preprints eine Grafik gibt, die in beiden identisch ist, aber an der Y-Achse abweichende Größeneinheiten zeigt. Während die eine Darstellung noch halbwegs denkbar sei, zeige die zweite unphysikalische Werte: „Sies würde bedeuten, dass die magnetische Massensuszeptibilität des Materials 154-fach über der eines perfekten Supraleiters läge“, schreibt Natelson.
Seiner Ansicht nach weckt dies nicht gerade Vertrauen in die Arbeiten: „Wir wissen nicht, welchen Zahlen wir bei den beiden Preprints glauben sollen. Das ist ziemlich schlampig, wenn man bedenkt, dass sie die Daten offenbar schon seit Monaten hatten“, schreibt Natelson.
Beobachtete Effekte wären auch anders erklärbar
Auch andere Physiker sind skeptisch: „Die Veröffentlichungen sind noch nicht ganz überzeugend“, sagt die Materialforscherin Susannah Speller von der University of Oxford. „Die Daten zeigen zwar einen scharfen Abfall des Widerstands, der einen abrupte Phasenübergang bei rund 100 Grad nahelegt. Aber ob dies wirklich durch die Bildung eines supraleitenden Zustands hervorgerufen wird, ist unklar.“ Denn wie die Forscherin erklärt, kann auch eine Anomalie in der spezifischen Wärmekapazität einen solchen Sprung erzeugen.
Weitere Zweifel gibt es an der magnetischen Levitation des LK-99-Materials: „Auf den ersten Blick sieht die Levitation beeindruckend aus“, schreibt der Festkörperphysiker Richard Green von der University of Maryland auf Twitter/X. Allerdings zeigte die teilweise schwebende Probe auch im normalen Zustand eine hohe diamagnetische Magnetisierung. Diamagnetismus ist die Fähigkeit, ein äußeres Magnetfeld zu verdrängen und abzulenken. „Daher könnte diese Probe auch einfach deshalb schweben, weil sie diamagnetisch ist“, so Green.
Sensation erst nach bestandener Überprüfung
Insgesamt herrscht Einigkeit darüber, dass es zum Feiern noch zu früh ist. Erst wenn auch andere Forschungsteams die Ergebnisse von Lee und Kollegen reproduzieren konnten und auch sie beim Material LK-99 klar eine Supraleitung nachgewiesen haben, könne man von einem Durchbruch sprechen, so der einhellige Tenor der Fach-Community. „Außerordentliche Behauptungen erfordern außerordentlich gute Belege“, kommentiert Toby Perring vom britischen Rutherford Appleton Laboratory.
Bis dies erfolgt ist, bleibt offen, ob Lee und seine Kollegen wirklich ein Material gefunden haben, das bei Raumtemperatur und Normaldruck supraleitend ist. Sollte sich dies aber bestätigten, dann wäre dies eine Weltsensation. (Lee et al., arXiv Preprints, doi: 10.48550/arXiv.2307.12008; doi: 10.48550/arXiv.2307.12037)
Quelle: arXiv, Science Media Centre UK, Twitter