Untertitelte Welt: Es gibt Menschen, die sehen beim Hören von Sprache unwillkürlich die passenden Wörter oder Bilder vor ihrem inneren Auge – sie haben quasi einen eingebauten Untertitel-Generator in ihrem Gehirn. Diese „Tickertape“-Synästhesie wurde zwar schon vor 140 Jahren erstmals beschrieben, ihre neurophysiologischen Merkmale haben Wissenschaftler aber erst jetzt näher untersucht. Die Resultate geben einige neue Einblicke in diese exotische Form der Synästhesie.
Für sie ist die Fünf gelb, sie sehen blau bei Klavierklängen oder schmecken Joghurt beim A: Menschen mit Synästhesie erleben die Welt um sich herum nicht in säuberlich getrennten Sinneseindrücken, sondern als Gesamtkunstwerk. Zahlen, Buchstaben oder Klänge erwecken bei ihnen gleichzeitig auch Farben, Gerüche oder Geschmack. Ursache dieser miteinander verknüpften Sinneswahrnehmungen ist eine Besonderheit der neuronalen Verarbeitung: Hirnareale, die normalerweise für verschiedene Arten von Sinnesreizen zuständig sind, reagieren bei Synästheten gemeinsam.
Gesprochenes erzeugt mentale Untertitel
Über eine besonders exotisch anmutende Form der Synästhesie staunte schon Charles Darwins Cousin Francis Galton im Jahr 1883: „Einige Menschen sehen jedes geäußerte Wort wie mental abgedruckt“, beschrieb Galton. „Sie lesen diese Wörter ab wie vom imaginären Tickerband eines Telegrafen.“ Menschen mit „Tickertape“-Synästhesie sehen vor ihrem inneren Auge eine Art Untertitel für gehörte, aber auch selbst gesprochene Sprache. Doch was hinter diesem Phänomen steckt, war bislang kaum erforscht.
Um mehr über die Ticktertape-Synästhesie herauszufinden, haben Fabien Hauw und seine Kollegen von der Sorbonne-Universität in Paris 26 Menschen mit diesem Wahrnehmungsphänomen näher befragt und mittels Experimenten und Hirnscans untersucht. „Dieses Phänomen ist mehr als nur eine exotische Eigenart. Es kann uns helfen, besser zu verstehen, welche Mechanismen bei der Verarbeitung geschriebener Sprache und ihren neuronalen Grundlagen am Werk sind“, erklärt Hauw.
Auch bei Songtexten Filmen und sogar in Träumen
Tatsächlich enthüllten die Ergebnisse einige spannende Details über die Tickertape-Synästhesie. Bei fast allen Testpersonen traten die mentalen Untertitel schon in der Kindheit auf, kurz nachdem sie angefangen hatten zu lesen. Die Wörter sind immer dann zu sehen, wenn jemand anders spricht – unabhängig davon ob diese Person sichtbar ist oder nicht. 23 der 26 Testpersonen sehen solche Untertitel sogar dann, wenn sie selbst laut oder in Gedanken sprechen. Auch Songtexte werden bei dieser Synästhesie wie von Geisterhand in die vor dem inneren Auge erscheinende Schrift übersetzt, wie Hauw und seine Kollegen berichten.
Interessanterweise tritt die Untertitel-Synästhesie bei rund zwei Drittel der Betroffenen nicht nur bei gehörter Muttersprache auf, sondern auch beim Hören einer ihnen bekannten Fremdsprache. Elf von ihnen berichteten, dass dies beim Anschauen von Filmen mit Untertiteln zu einer Überlagerung führt: Sie sehen die eingeblendeten Untertitel und darüber ihre eigene mentale Verschriftlichung des Gehörten. Einige Testpersonen erlebten sogar untertitelte Träume und Alpträume.
In manchen Fällen verändert sich das Aussehen der vor dem geistigen Auge erscheinenden Texte zudem mit der Lautstärke und dem Emotionsgehalt des Gehörten: Die Schrift wird größer, bewegt sich oder wechselt die Farbe, wie die Betroffenen berichten.
Überaktive“ Übersetzung“ von Lauten
Doch wo liegen die Ursachen für dieses Phänomen? Auch darauf lieferten die Studie einige Hinweise. So hatten zwei Drittel der Testpersonen neben den Untertiteln noch weitere Formen der Synästhesie. „Solche Häufungen kommen bei Synästhesie häufiger vor und deuten auf gemeinsame Entstehungsmechanismen hin“, erklären die Forschenden. Bei rund einem Drittel gab es zudem weitere Fälle von Tickertape-Synästhesie in der Familie. Das lege nahe, dass auch diese Variante der Synästhesie eine genetische Basis hat.
Wie die Forscher erklären, ist diese Form der Synästhesie im Gehirn eng mit der Verarbeitung von Schrift und gehörter Sprache verknüpft. „Wir vermuten, dass die Tickertape-Synästhese auftritt, wenn die Übersetzung von Phonemen in Grapheme – von Lauten in Buchstaben – zu effizient abläuft“, erklärt Koautor Laurent Cohen. Während diese Verknüpfung normalerweise nur dann gebraucht wird, wenn wir ein Wort buchstabieren oder Diktiertes mitschreiben, ist diese Übersetzungsfähigkeit bei den Synästheten überaktiv und tritt auch ohne Schreiben beim bloßen Hören von Sprache auf.
Umkehrung des Leseprozesses
Dazu passen erste Ergebnisse von Hirnscans: „Wenn ein Mensch mit Tickertape-Synästhesie einen Monolog hört, werden bestimmte Areale in seiner linken Hirnhälfte stärker aktiviert als bei Kontrollpersonen“, berichtet Hauw. „Unter ihnen sind für die Sprachanalyse zuständige Hirnregionen, aber auch die Visual Word Form Area (VWFA), ein beim Schreiben aktives Hirnareal.“ Typischerweise sind diese Hirnregionen beim Lesen oder Schreiben aktiv, sie spielen zudem bei der Legasthenie eine Rolle.
„Das stützt die Annahme, dass die Tickertape-Synästhesie eine Umkehrung des Lesens darstellt: Statt geschriebene Wörter in Laute zu übersetzen, konvertieren diese Menschen automatisch die Laute in geschriebene Wörter“, so Hauw. Dafür spricht auch, dass die mentalen Untertitel beim stillen Lesen nicht auftreten, wohl aber, wenn die Personen inmitten von Stimmengewirr versuchen, ein Buch oder die Zeitung zu lesen: Bei 23 der 26 Testpersonen führte dies zu mehr oder weniger ausgeprägten Störungen des Lesens, dafür empfanden sie ihre Synästhesie häufig als Hilfe beim Merken oder Schreiben.
Noch viele Fragen offen
Noch steht die Forschung zu dieser speziellen Form der Synästhesie ganz am Anfang, wie Hauw und seine Kollegen betonen. Es ist bisher nicht einmal klar, bei wie vielen Menschen diese Tickertape-Synästhesie auftritt – bisherige Schätzungen variieren zwischen 1,4 und sieben Prozent der Erwachsenen. Letzteres sei aber eher eine Überschätzung, wie die Forscher erklären. Sie halten einen Anteil von maximal wenigen Prozent für wahrscheinlicher.
Ähnlich wie bei anderen Formen solcher verknüpften Wahrnehmungen sind sich viele Betroffene zunächst nicht bewusst, dass ihre untertitelte Welt etwas Ungewöhnliches ist. 19 der 26 Studienteilnehmer erkannten dies eigenen Angaben zufolge erst im Teenager- oder Erwachsenenalter. „Einige Teilnehmer der Studie waren fast geschockt als sie begriffen, dass nicht jeder eingebaute Untertitel besitzt“, sagt Cohen. (Cortex, 2023; doi: 10.1016/j.cortex.2022.11.005)
Quelle: Institut du Cerveau Paris