Psychologie

Denken wir im Herbst konservativer?

Wie Jahreszeiten unsere Werte und Überzeugungen beeinflussen

Symbolbild vier Jahreszeiten
Unsere Überzeugungen schwanken mit den Jahreszeiten. © by-studio / iStock

Kurioser Effekt: Unsere moralischen Werte sind offenbar weniger fix als angenommen, wie Psychologen herausgefunden haben. Demnach verändern sich unsere Überzeugungen nicht nur im Laufe unseres Lebens, sondern schwanken auch regelmäßig mit den Jahreszeiten. Dies könnte weitreichende Folgen für wichtige Entscheidungen haben und etwa den Ausgang von Wahlen und Gerichtsverfahren beeinflussen. Auch beim Umgang mit Fremden und Gesundheitskrisen könnte der Zeitpunkt im Jahr entscheidend sein.

Moralische Werte prägen unsere Einstellungen und Handlungen. Sie unterscheiden zwischen gut und böse, richtig und falsch. Dabei sind unsere Moral und damit verknüpften Denkmuster nicht in Stein gemeißelt, sondern formbar und verändern sich je nach Kontext und Lebenssituation. Besonders Heranwachsende entwickeln daher ihren moralischen Kompass erst im Laufe der Zeit. Zudem gibt es Hinweise, dass sich unsere Moralvorstellungen bei sozialem Druck und im Tagesverlauf ändern. Doch wie stabil sind unsere Überzeugungen über das Jahr hinweg?

Langzeitdaten offenbaren moralische Überzeugungen

Dieser Frage ist ein Team um Ian Hohm von der University of British Columbia nachgegangen. Dafür entwickelten die Sozialpsychologen eine Online-Umfrage, in der Teilnehmende Angaben zu ihren moralischen Werten in fünf Bereichen machen sollten: Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe, Respekt für Autoritätspersonen und etablierte Regeln, Wertschätzung für Sauberkeit und Traditionen, Fürsorge für Mitmenschen und allgemeine Fairness.

Diese fünf Felder sind früheren Studien zufolge wichtig für unsere individuellen Entscheidungen und Bewertungen. Während Loyalität, Autorität und Reinheit dabei eher politisch konservative Werte umschreiben und zur Gruppenbildung beitragen, sind Fürsorge und Fairness eher liberale Werte mit Blick auf die eigenen Interessen und die von Einzelpersonen. Zusammen prägen diese Aspekte unseren moralischen Kompass.

An der Umfrage nahmen zwischen 2011 und 2020 mehr als 230.000 Menschen aus den USA teil. Hohm und seine Kollegen werteten die Daten aus und suchten darin nach Trends.

Grafik zeigt saisonale Schwankungen der Moralvorstellungen
Die Grafik von 2011 bis 2020 zeigt regelmäßige saisonale Schwankungen in der Befürwortung verbindender moralischer Werte wie Loyalität, Autorität und Reinheit. © Evolutionary Social Cognition Laboratory at UBC

Saisonale Schwankungen des moralischen Kompasses

Dabei zeigte sich ein überraschendes saisonales Muster, das über die zehn Jahre hinweg erkennbar blieb: Im Frühling und Herbst legten die Befragten mehr Wert auf die konservativen „Bindungswerte“ Loyalität, Autorität und Reinheit. Im Sommer und Winter waren ihnen diese moralischen Werte hingegen weniger wichtig. „Die Befürwortung moralischer Werte, die den Zusammenhalt und die Konformität der Gruppe fördern, ist im Frühling und Herbst stärker als im Sommer und Winter“, sagt Hohm.

Je nach Jahreszeit schwankte demnach der moralische Kompass hinsichtlich drei der fünf untersuchten Moralaspekte. Dieser Effekt war umso ausgeprägter, je stärker sich die Jahreszeiten am Wohnort der Befragten klimatisch unterschieden. In ergänzenden Studien mit Teilnehmenden aus den USA, Kanada und Australien fanden die Forschenden dasselbe saisonale Muster. In Großbritannien zeigten sich ebenfalls jahreszeitliche Schwankungen, allerdings mit einem anderen Verlauf: Dort nahm die Zustimmung zu „Bindungswerten“ nur im Sommer, aber nicht im Winter ab. „In verschiedenen Ländern können unterschiedliche Muster saisonaler Schwankungen der moralischen Werte auftreten“, schließt das Team daraus.

Trost und Stütze bei Ängsten?

Aber warum sind uns im Jahresverlauf bestimmte Werte mehr oder weniger wichtig? Auf der Suche nach möglichen Ursachen verglichen Hohm und seine Kollegen diese Daten mit Untersuchungen zu Ängsten. „Wir stellten fest, dass das Angstniveau im Frühling und Herbst seinen Höhepunkt erreicht. Das fällt mit den Zeiträumen zusammen, in denen die Menschen verbindende Werte stärker befürworten,” berichtet Seniorautor Mark Schaller von der University of British Columbia.

Konservative Werte finden demnach höheren Anklang, wenn die Menschen Angst haben. „Diese Korrelation deutet darauf hin, dass ein höheres Angstniveau die Menschen dazu veranlassen könnte, Trost in den Gruppennormen und -traditionen zu suchen, die durch verbindende Werte aufrechterhalten werden“, so Schaller.

Folgen für Politik, Recht und andere Lebensbereiche

Die Erkenntnisse könnten weitreichende Auswirkungen haben. Beispielsweise könnten die saisonalen Schwankungen die Entscheidungen der Menschen bei Wahlen beeinflussen, weil sich mit dem moralischen Werten auch die politischen Überzeugungen ändern. Auch der Ausgang von Gerichtsverfahren könnte je nach Zeitpunkt im Jahr unterschiedlich ausfallen – mit tendenziell härteren Strafen bei Verstößen gegen soziale Normen während der moralisch konservativer geprägten Jahreszeiten.

Fremde und Außenseiter könnten es ebenfalls im Frühjahr und Herbst schwerer haben, von ihren Mitmenschen akzeptiert zu werden, weil dann Ängste und Vorurteile Hauptsaison haben. Während der Corona-Pandemie zeigte sich zudem, dass die moralischen Werte der Menschen mit beeinflussten, ob sie den offiziellen Verhaltensempfehlungen zur Eindämmung des Virus folgten. Mit der neuen Erkenntnis, dass diese Überzeugungen saisonal schwanken, könnten bei künftigen Gesundheitsfragen jahreszeitenspezifische Kampagnen entwickelt werden, um eine bessere Wirkung zu entfalten.

Nachgelagerte Effekte?

Die saisonalen Schwankungen der Moral könnten auch bislang nicht absehbare Folgen haben. „Moralische Werte sind ein grundlegender Bestandteil der Art und Weise, wie Menschen Entscheidungen treffen und sich Urteile bilden. Daher glauben wir, dass diese Erkenntnis Auswirkungen auf alle möglichen anderen nachgelagerten Effekte hat“, so Hohm.

Zusammen mit seinen Kollegen will er nun genauer erforschen, wie Moral und Emotionen zusammenhängen und wie deren Schwankungen Vorurteile und Justizentscheidungen beeinflussen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2024; doi: 10.1073/pnas.2313428121)

Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), University of British Columbia

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