Verstreut statt lokal: Anders als gedacht speichert unser Gehirn einen Gedächtnisinhalt nicht nur in wenigen Arealen der Großhirnrinde ab. Stattdessen legt es für jede Erinnerung ein über das gesamte Hirn verteiltes Netzwerk an, wie eine Studie enthüllt. Beim Abspeichern und beim Abrufen der Erinnerung werden dadurch auch Neuronen aktiv, die im Mittelhirn und Hirnstamm liegen und damit in bisher unberücksichtigten Gedächtnis-Arealen.
Gängiger Lehrmeinung nach entstehen Erinnerungen durch biochemische Veränderungen in bestimmten Hirnzellen und Arealen. Dabei gilt vor allem der Hippocampus als die Zentrale, die das Abspeichern und Abrufen von Gedächtnisinhalten im Cortex kontrolliert. Je stärker dabei die Verknüpfung zwischen der „Zentrale“ und den Speicherorten, desto besser können wir uns an die jeweiligen Informationen erinnern.
Mäusen beim Erinnern ins Gehirn geschaut
Doch wie lokal ist unser Gedächtnisspeicher? Wird eine spezifische Information immer nur von den vernetzten Neuronen eines begrenzten Hirnareals repräsentiert? Dieser Frage sind Dheeraj Roy vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und seine Kollegen nachgegangen. Anstoß dazu gaben ihnen die Theorien des deutschen Zoologen Richard Semon, der bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee von Gedächtnis-Engrammen vertrat – über das Gehirn verteilten Netzwerken der Erinnerungen.
Um dies zu überprüfen, markierten die Forschenden Neuronen in 247 verschiedenen Hirnregionen ihrer Testmäuse mit einem Fluoreszenzmarker. Dieser leuchtete auf, wenn ein für das Abspeichern oder Aufrufen einer Information benötigte Gen in den Hirnzellen dieser Areale aktiv wurde. Anschließend setzten sie die Mäuse einer Situation aus, in der sie eine neue Erinnerung bilden mussten: Sie wurden aus ihrem gewohnten Käfig in einen Behälter gesetzt, in dem sie einen schwachen Stromschlag bekamen – eine unangenehme, einprägsame Erfahrung.
Vernetzte Aktivität im gesamten Gehirn
Es zeigte sich: Neben Neuronen in schon bekannten Gedächtnisarealen wie dem Hippocampus, der für Angst zuständigen Amygdala und dem Cortex leuchteten auch viele weitere Hirnbereiche auf. „Zusätzlich zu den schon zuvor als Zentren für das Lernen und das Gedächtnis identifizierten Arealen umfassten diese auch Strukturen im Mittelhirn und in den Kernen des Hirnstamms“, berichten Roy und seine Kollegen. Das Aktivitätsmuster – Engramm – erstreckte sich über fast das gesamte Gehirn der Maus.
Demnach umfasst schon ein einzelner Gedächtnisinhalt weit mehr als nur ein lokales Netzwerk der Erinnerung: „Die Kartierung des Engramms einer spezifischen Erinnerung bestätigt, dass ein Gedächtnisinhalt nicht in einer Hirnregion gespeichert wird, sondern in einer Kette von Engramm-Ensembles, die über multiple Hirnregionen verteilt liegen“, schreiben die Wissenschaftler.
Lokale Aktivierung „weckt“ das ganze Netzwerk
Interessant auch: Als Roy und sein Team gezielt einzelne Neuronen in den Erinnerungs-Netzwerken ihrer Mäuse aktivierte, leuchteten daraufhin auch weite Teile des restlichen Engramms auf. „Zumindest ein Teil des Musters, das beim natürlichen Gedächtnis-Abruf auftritt, ließ sich so reproduzieren“, so die Forschenden. Auch das Verhalten der Tiere passte dazu: Sie reagierten ähnlich ängstlich wie beim natürlichen Abrufen der angstbesetzten Erinnerung, beispielsweise wenn sie wieder in den zuvor mit dem Elektroschock verknüpften Behälter gesetzt wurden.
„Das stützt die Annahme, dass die erfolgreiche Reaktivierung dieser Gedächtnis-Ensembles eine entscheidende Komponente des erfolgreichen Erinnerns ist“, konstatieren die Forschenden. Je mehr Teile des Gedächtnis-Netzwerks beim Abrufen aktiviert werden, desto stärker und deutlicher ist ihren Tests zufolge die Erinnerung. „Die Kombination mehrerer Engramme zu einem solchen Netzwerk könnte demnach dazu dienen, eine Erinnerung effizienter abzuspeichern und abzurufen“, mutmaßt Roy.
Hilfe für Gedächtnisstörungen?
Nach Ansicht des Forschungsteams bestätigen ihre Erkenntnisse die Theorien von Richard Semon, könnten aber auch für die moderne Neurologie hilfreich sein – beispielsweise bei der Suche nach Ursachen für Gedächtnisausfälle und vielleicht sogar bei Therapien. „Wenn eine Gedächtnisstörung auf einer Fehlfunktion des Hippocampus oder Cortex beruht, dann könnte es vielleicht helfen, wenn man andere an den Erinnerungs-Engrammen beteiligte Areale stimuliert“, sagt Roy.
Dazu beitragen könnte eine von den Forschenden erstellte Rangliste von 117 Hirnarealen, die bei ihren Mäusen am Gedächtnis-Engramm beteiligt waren. „Künftige Studien können diese Ressource nutzen, um solche Engramm-Zellensembles und ihre funktionelle Verknüpfung noch besser zu kartieren“, so das Team. (Nature Communications, 2022; doi: 10.1038/s41467-022-29384-4)
Quelle: Massachusetts Institute of Technology (MIT)