In den Kopf geschaut: Wer in seinem Erbgut bestimmte genetische Varianten trägt, entwickelt mit höherer Wahrscheinlichkeit die Lernschwierigkeit Legasthenie. Zugleich sind bei diesen Personen im Erwachsenenalter bestimmte Gehirnbereiche vergrößert oder verkleinert, wie Neurobiologen herausgefunden haben. Betroffen sind unter anderem Areale, die an der Bewegungskoordination, der Sprache und dem Sehen beteiligt sind. Aber sind diese Veränderungen im Gehirn eine Ursache oder Folge der Legasthenie?
Legasthenie ist eine neurologische Entwicklungsstörung, an der etwa drei bis sieben Prozent der Schulkinder leiden. Sie haben große Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und der Rechtschreibung. „Legasthenie ist teilweise genetisch beeinflusst und recht stark vererbbar“, erklärt Sourena Soheili-Nezhad vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen. „Legasthenie ist jedoch komplex und kann nicht durch Veränderungen in einem einzelnen Gen erklärt werden.“
Auch sind an dieser Lernschwierigkeit nicht nur eine einzelne, sondern mehrere Gehirnregionen beteiligt, wie frühere Studien nahelegen. Aber wie beeinflussen die mit Legasthenie assoziierten Genvarianten dann die Gehirnentwicklung und Hirnstruktur?
Abgleich von Legasthenie-Genen und Gehirnscans
Um das herauszufinden, durchsuchten Soheili-Nezhad und sein Team die genetischen Daten von 51.800 Menschen mit und mehr als einer Million Menschen ohne diagnostizierter Legasthenie. Die Daten wurden von der Firma 23andMe gesammelt und enthalten knapp 14.000 verschiedene genetische Varianten, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Person Legasthenie hat.
Diese Gendaten verglichen die Neurobiologen mit Gehirnscans von mehr als 30.000 Erwachsenen aus der UK Biobank. Diese britische Datenbank enthält keine Angaben, ob die Personen eine Lernschwierigkeit haben. Durch den Vergleich mit den Genvarianten ermittelten die Forschenden allerdings, welche genetischen Veranlagungen mit welchen Teilen des Gehirns in Verbindung stehen.
Genetische Veranlagung zeigt sich auch im Gehirn
Das Ergebnis: Bei den Menschen mit einer höheren genetischen Wahrscheinlichkeit für Legasthenie waren einige Gehirnbereiche kleiner, andere größer als bei Menschen ohne solche genetischen Veranlagungen. Ein geringeres Volumen wiesen die Hirnareale auf, die an der Bewegungskoordination und der Verarbeitung von Sprachlauten beteiligt sind. Darunter waren der primäre motorische Kortex, der linke temporoparietale Übergang sowie eng verknüpfte Teile des Frontallappens und der Inselrinde.
Vergrößert waren hingegen der visuelle Kortex und der mittlere Temporallappen, wie das Team feststellte. Diese Areale sind fürs Sehen und das Gedächtnis wichtig. Einen Zusammenhang mit genetisch bedingtem Legasthenie-Risiko fanden die Forscher auch bei der sogenannten inneren Kapsel (Capsula interna). Dieses Hirnareal aus weißer Substanz sitzt tief im Gehirn und wies bei den genetisch vorbelasteten Menschen eine geringere Dichte auf.
Diese Verkleinerung trat jedoch nicht nur in Verbindung mit der genetischen Disposition für Legasthenie auf, sondern auch bei Menschen mit geringerem Bildungsniveau, mit ADHS und mit geringerer fluider Intelligenz – der Fähigkeit, sich an neue Situationen anzupassen. Diese drei Eigenschaften treten häufig zusammen mit Legasthenie auf. „Diese Hirnregion (in der inneren Kapsel) verbindet den Thalamus und den Frontalkortex und ist an mehreren kognitiven Bereichen beteiligt, die zu psychiatrischen Merkmalen beitragen“, erklärt das Team.
Ursache oder Folge der Legasthenie?
„Diese Ergebnisse zeigen, dass Legasthenie eine Kombination veränderter kognitiver Prozesse beinhalten kann“, erklärt Seniorautor Clyde Francks, ebenfalls vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik. Demnach können Veränderungen im Gehirn der Grund für die Lernschwäche sein. „Einige der Gehirnveränderungen hängen wahrscheinlich mit einer veränderten Entwicklung des Gehirns in frühen Lebensphasen zusammen, zum Beispiel beim Fötus oder im Säuglingsalter, die dann ein Leben lang stabil bleiben“, so Francks.
Doch manche der beobachteten Auffälligkeiten im Gehirn könnten sich auch erst in späterem Alter entwickelt haben. „Andere Veränderungen könnten Reaktionen des Gehirns auf jahrzehntelang verändertes Verhalten bei Menschen mit höherer genetischer Veranlagung für Legasthenie widerspiegeln. Zum Beispiel kann sich das jahrelange Vermeiden des Lesens im Privat- und Berufsleben auf das visuelle System des Gehirns auswirken“, so Francks weiter.
Demnach könnte sich das Gehirn der Betroffenen verändern, eben weil sie eine Lernschwäche haben und darum weniger lesen. Dadurch nutzen sie manche Hirnareale stärker oder schwächer als Menschen ohne Legasthenie und das Gehirn entwickelt sich anders.
Wiederholung mit Daten von Kindern nötig
Folgestudien sollen nun klären, welche Veränderungen im Gehirn an der Entstehung von Legasthenie beteiligt sind und welche Hirnveränderungen nachgelagerte Folgen der Lernschwierigkeit sind. Dafür wollen die Forschenden ihre Analysen mit Daten von Kindern oder Jugendlichen wiederholen.
Das könnte dann auch helfen, „in Zukunft eine frühere Diagnose und pädagogische Intervention zu erreichen, mit gezielteren Strategien, die auf die Profile der einzelnen Kinder zugeschnitten sind“, sagt Soheili-Nezhad. (Science Advances, 2024; doi: 10.1126/sciadv.adq2754)
Quelle: Max-Planck-Institut für Psycholinguistik