Kinder entwickeln erst im Alter von drei bis vier Jahren die Fähigkeit, ihre Impulse zu kontrollieren. Welche Veränderungen im Gehirn hinter diesem wichtigen Entwicklungsschritt stecken, haben nun Forschende erstmals aufgeklärt. Demnach hängt die Selbstkontrolle in eher „kühlen“, nicht emotionalen Situationen von der Reifung eines zentralen Kontrollnetzwerks ab, das unter anderem im Stirnhirn sitzt. Die Kontrolle emotionsgeladener Impulse wird hingegen von anderen Hirnarealen bestimmt.
Als Erwachsene besitzen wir die Fähigkeit, unsere Gedanken, Emotionen und unser Verhalten zu kontrollieren. Wir geben nicht wahllos unseren Impulsen nach und können dadurch strategisch handeln, konzentriert lernen und uns an soziale Regeln halten. Studien zeigen, dass wir dies dem sogenannten kognitiven Kontrollnetzwerk (sCCN) verdanken, einer engen Verschaltung von Hirnarealen im Stirn und Scheitellappen des Cortex mit tieferliegenden Zentren wie dem Thalamus, der unter anderem als Filter für Reize fungiert.
Zwei Arten der Impulskontrolle
Doch diese Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist nicht angeboren: Kinder entwickeln sie erst im Alter zwischen drei und vier Jahren – ihre Impulskontrolle erlebt dabei einen regelrechten Entwicklungssprung. Was dabei im Gehirn passiert, war jedoch bisher unklar. Philipp Berger und seine Kollegen vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig haben deshalb diesen Entwicklungsschritt bei 37 drei- und vierjährigen Kindern in Verhaltensexperimenten und funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) untersucht.
Zunächst testeten die Forschenden dafür zwei Formen der Selbstkontrolle bei den Kindern. Im ersten Test der „heißen“ Impulskontrolle sollten die allein im Raum sitzenden Kinder der Versuchung widerstehen, eine Süßigkeit direkt zu verzehren. Motivation dafür lieferte die Versprechung einer größeren Süßigkeitsportion nach Ende der Testzeit. Im zweiten Test einer „kalten“ Selbstkontrolle sollten die Kinder nur dann einer Anweisung zum Klatschen oder einer Bewegung folgen, wenn diese von einem bestimmten Kuscheltier gegeben wurde.
Wandel zwischen drei und vier Jahren
Wie erwartet änderte sich die Reaktion der Kinder bei diesen Tests mit dem Alter: Die Dreijährigen schafften es in beiden Aufgaben noch nicht, ihren spontanen Impulsen zu widerstehen. Den meisten Vierjährigen gelang es dagegen, ihre Lust auf die Süßigkeit zugunsten der späteren Belohnung zu vertagen. Sie reagierten im „kalten“ Test auch korrekt auf das richtige Kuscheltier. Allerdings schnitten die Kinder dabei häufig je nach Aufgabentyp unterschiedlich gut ab.
Wie sich die Hirnaktivität der Kinder unterschied und welche Hirnareale für die Selbstkontrolle bei ihnen zuständig sind, enthüllten anschließend die Hirnscans. Das Forschungsteam wollte dabei vor allem wissen, wo die beiden verschiedenen Formen der Impulskontrolle verortet sind. „Bisher ist strittig, ob diese beiden Formen der Selbstkontrolle eine gemeinsame neuronale Basishaben oder ob sie auf voneinander unabhängigen Prozessen beruhen“, erklären Berger und seine Kollegen.
Unterschiedliche Hirnregionen
Es zeigte sich: Um den Test der „kalten“ Impulskontrolle zu bestehen, mussten wichtige Teile des kognitiven Kontrollnetzwerks bei den Kindern ausreichend ausgereift sein, darunter der rechte Scheitellappen und der präfrontale Cortex. Diese Region im Stirnhirn ist bei Erwachsenen primär für die Planung und Steuerung von Handlungen zuständig und gilt als besonders wichtig für die Selbstkontrolle. Je weiter diese Hirnbereiche bereits entwickelt und mit weiteren Hirnarealen des Kontrollnetzwerks verknüpft waren, desto besser bewältigen die Kinder die „kalte“ Selbstkontrolle.
Interessant jedoch: Für die Kontrolle „heißer“, emotionsträchtiger Impulse spielten Stirnhirn und Scheitellappen bei den Kindern eine geringere Rolle als gedacht. Stattdessen war dafür das Volumen der rechten Thalamushälfte und die Reifung des Gyrus supramarginalis entscheidend. Letzterer ist eng mit der Aufmerksamkeitssteuerung verknüpft, wie die Forschenden erklären.
Zweigeteilte Kontrolle
Damit sprechend diese Ergebnisse dafür, dass die verschiedenen Aspekte der Selbstkontrolle bei Kindern – und möglicherweise auch Erwachsenen – keineswegs von den gleichen Komponenten des kognitiven Kontrollnetzwerks gesteuert werden. Stattdessen gehen „heiße“ und „kalte“ Impulskontrolle offenbar auf unterschiedliche Verschaltungen und Areale im Gehirn zurück. „Verschiedene Komponenten des Kontrollnetzwerks sind demnach mit verschiedenen Aspekten der Impulskontrolle verknüpft“, so das Team.
Das könnte auch erklären, warum der Entwicklungssprung zur Kontrolle der „heißen“ und „kalten“ Impulse bei Kindern nicht zur gleichen Zeit erfolgen muss – und unterschiedlich gut ausgeprägt sein kann. So haben Studien beispielsweise gezeigt, dass beispielsweise bei Kindern mit ADHS diese beiden Aspekte der Selbstkontrolle oft nicht gleichem Maße betroffen sind. (Journal of Neuroscience, 2022; doi: 10.1523/JNEUROSCI.2235-21.2022)
Quelle: Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften