Essen in Sicht: Sehen wir Nahrungsmittel oder deren Abbildungen, wird in unserem Gehirn eine spezifische Population von Neuronen aktiv, wie Hirnscan-Daten enthüllen. Diese Hirnzellen liegen im selben Teil des visuellen Kortex wie unser Zentrum für die Gesichtserkennung. Unser Gehirn hat demnach fürs Essen einen ähnlich speziellen „Detektor“ entwickelt wie für die Gesichter unserer Artgenossen – das unterstreicht die besondere soziale und kulturelle Bedeutung des Essens für uns Menschen, wie das Forschungsteam erklärt.
Um sich in einer Welt voller Reize zurückzufinden, muss unser Gehirn Wichtiges von Unwichtigem trennen können. Dabei helfen unter anderem spezielle Neuronen im visuellen Kortex, die selektiv auf bestimmte, besonders bedeutsame Reize reagieren. Bereits entdeckt wurden Bereiche, die spezifisch Gesichter, Körper, Orte und Wörter erkennen. Sie alle gehören zur ventralen Sehbahn, dem Bereich des Gehirns, der für die Erkennung von Objekten zuständig ist.
Offener Ansatz ohne Hypothesen
Gefunden wurden diese Bereiche, weil Wissenschaftler gezielt nach ihnen gesucht haben. Sie zeigten Personen entsprechende Bilder und beobachteten währenddessen mit Hilfe von funktionaler Magnetresonanztomographie (fMRT), welche Areale dabei im Gehirn aufleuchteten. Solche hypothesengeleiteten Ansätze haben allerdings den Nachteil, dass man nur finden kann, wonach man auch sucht.
Ein Team um Meenakshi Khosla vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge hat daher einen anderen Ansatz verfolgt: „Wir wollten sehen, welche Arten von Selektivitäten auftauchen, wenn wir eine datengesteuerte, hypothesenfreie Strategie anwenden, und ob diese mit dem übereinstimmen, was zuvor entdeckt wurde“, sagt Khosla. „Ein zweites Ziel war es, zu sehen, ob wir neue Selektivitäten entdecken können, die entweder noch nicht vermutet wurden oder die aufgrund der geringeren räumlichen Auflösung von fMRI-Daten verborgen geblieben sind.“
Suche in fMRT-Daten
Als Grundlage verwendete Khoslas Team einen öffentlich zugänglichen Datensatz, der fMRT-Aufnahmen des Gehirns von acht Probanden enthält, während diese nacheinander Tausende von Bildern betrachten. Mit einer mathematischen Analysemethode werteten die Forschenden die fMRT-Aufnahmen Bildpunkt für Bildpunkt aus. Auf diese Weise konnten sie auch die Reaktionen von sehr kleinen Populationen von Neuronen ausfindig machen, die bei herkömmlichen Analysen verborgen bleiben.
Tatsächlich fanden die Forschenden mit diesem Ansatz die vier zuvor identifizierten Neuronencluster wieder, die auf Gesichter, Körper, Orte und Wörter reagieren. „Das zeigt uns, dass diese Methode funktioniert und dass die Dinge, die wir zuvor gefunden haben, tatsächlich wichtige, dominante Eigenschaften dieses Sehpfades sind“, sagt Khoslas Kollegin Nancy Kanwisher.
Neuronen reagieren nur auf den Anblick von Essen
Zusätzlich fand das Team jedoch eine fünfte Gruppe von spezialisierten Neuronen, die offenbar selektiv auf Bilder von Nahrungsmitteln reagierten. „Das hat uns zunächst sehr verwundert, weil Lebensmittel keine visuell homogene Kategorie sind“, sagt Khosla. „Dinge wie Äpfel, Mais und Nudeln sehen alle so unterschiedlich aus und doch fanden wir eine einzige Population, die auf all diese verschiedenen Lebensmittel ähnlich reagiert.“
Die neu entdeckte Neuronenpopulation bezeichnen die Forschenden als ventrale Nahrungskomponente (ventral food component, VFC). Um die Funktionsweise der VFC genauer zu verstehen, trainierten die Forscher auch ein Computermodell, mit dem sie die Reaktionen der Neuronen voraussagen konnten. Unter anderem präsentierten sie dem Modell Bilder von Lebensmitteln und anderen Gegenständen, die sehr ähnlich aussahen – zum Beispiel eine Banane und eine gelbe Mondsichel.
„Diese übereinstimmenden Reize haben sehr ähnliche visuelle Eigenschaften, aber das Hauptmerkmal, in dem sie sich unterscheiden, ist ‚essbar oder nicht’“, erklärt Khosla. Anhand von Millionen solcher Bilder, die sie durch das Vorhersagemodell schickten, bestätigten sie, dass der VFC sich nicht von visuellen Ähnlichkeiten täuschen lässt, sondern sehr selektiv auf Bilder von Nahrungsmitteln reagiert.
Kulturelle Bedeutung
Aus Sicht der Wissenschaftler unterstreicht dieses Resultat, wie wichtig Essen für uns Menschen ist: „Essen hat eine zentrale Bedeutung für menschliche soziale Interaktionen und kulturelle Praktiken. Es ist nicht nur Nahrung“, sagt Kanwisher. In zukünftigen Studien wollen die Forschenden herausfinden, inwieweit es ähnliche Repräsentationen im Gehirn von Affen gibt, für die Essen nicht die gleiche kulturelle Bedeutung hat wie für den Menschen.
Zudem wollen sie untersuchen, welche Rolle die Vertrautheit mit bestimmten Lebensmitteln sowie persönliche Vorlieben und Abneigungen bei der Essenserkennung im menschlichen Gehirn spielen. Bei einzelnen Probanden zeigte sich beispielsweise bereits, dass ihr VFC stärker auf verarbeitete Speisen wie Pizza reagiert als auf unverarbeitete Nahrungsmittel wie Äpfel. (Current Biology, 2022, doi: 10.1016/j.cub.2022.08.009)
Quelle: Massachusetts Institute of Technology