Schleichende Epidemie? In den USA nimmt die Zahl der Kinder mit Autismus weiter stetig zu. 2022 wurden im Schnitt vier Prozent der achtjährigen Jungen und ein Prozent der Mädchen mit Autismus diagnostiziert – dies ist mehr als jemals zuvor in den USA, wie die US Centers for Disease Control (CDC) berichten. Was die Ursache dieser Zunahme von autistischen Störungen ist, bleibt unklar. An einer besseren Diagnostik allein liegt dies nach Ansicht von Forschenden nicht. Auffallend ist jedoch, dass mehr Mädchen und mehr Kinder nichtweißer Hautfarbe betroffen sind als früher.
Menschen mit Autismus haben häufig Probleme mit der sozialen Interaktion, der nichtverbalen Kommunikation und reagieren überempfindlich auf Reize. Während Autisten mit dem Asperger-Syndrom meist normal oder sogar überdurchschnittlich intelligent sind, kann eine autistische Entwicklungsstörung auch zu geistiger Behinderung führen. Doch was dieses Syndrom auslöst, ist bislang ungeklärt – im Verdacht stehen genetische Faktoren und das Alter der Eltern, aber auch Virusinfektionen und Schadstoffeinflüsse beim ungeborenen Kind.
Ungeklärte Zunahme
Entsprechend ungeklärt ist daher auch, warum die Zahl der Autismus-Fälle schon seit Jahren ansteigt. Zwar könnte ein Teil dieses Anstiegs auf bessere Diagnose-Methoden und die stärkere Aufmerksamkeit für autistische Störungen zurückgehen. Das allein reiche aber nicht aus, um die Zunahme zu erklären. „Dieses Phänomen hängt nicht nur damit zusammen, dass wir auch subtile Störungen bei Kindern heute besser erkennen“, sagt US-Autismusforscher Walter Zahorodny von der Rutgers University. Denn die Zunahme zeige sich bei allen Formen und Schweregraden.
Um mehr über die Entwicklung autistischer Störungen und ihre Ursachen zu erfahren, überwachen die US-Centers of Disease Control (CDC) seit dem Jahr 2000 die Autismus-Diagnosen in elf über die USA verteilten Bundesstaaten. Dabei wird erhoben, wie viele Fälle es unter Vier- und Achtjährigen gibt, wie stark der Autismus ausgeprägt ist und welchen Hintergrund die betroffenen Kinder haben.
Neue Rekord-Fallzahlen in den USA
Jetzt wurden die Ergebnisse der jüngsten Erhebung veröffentlicht. Demnach wurden im Jahr 2020 bei rund 4,3 Prozent der achtjährigen Jungen und 1,1 Prozent der Mädchen in den USA eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. „Diese Werte sind höher als bei jeder vorangegangenen Erhebung“, berichten Matthew Maenner vom CDC und seine Kollegen. Zudem liegt die Fallrate nun auch bei Mädchen erstmals über einem Prozent. Typischerweise entwickeln mehr Jungen als Mädchen eine autistische Störung.
Ganz ähnliche Trends gibt es bei den Fallzahlen der jüngeren Kinder: Bei den Vierjährigen ist die Häufigkeit von Autismus in den zwei Jahren von 2018 bis 2020 noch einmal deutlich angestiegen – obwohl es 2020 wegen der Corona-Pandemie Ausfälle bei den Untersuchungen gab. Der CDC-Erhebung zufolge stieg die Zahl der Autismus-Diagnosen bei vierjährigen Jungen gegenüber 2018 um 24,3 Prozent, bei Mädchen um 34,5 Prozent. In beiden Altersstufen gibt es zudem eine überproportionale Zunahme von Fällen bei Kindern nichtweißer Herkunft.
Häufung von Autismus in Kalifornien
Auffallend auch: Es gibt klare regionale Unterschiede bei den Fallzahlen. So wurden in Kalifornien fast doppelt so viele Jungen mit Autismus diagnostiziert wie in den meisten anderen US-Bundesstaaten – dies betraf Kinder aus allen Einkommensschichten nahezu gleichermaßen, wie das CDC berichtet. In San Diego lag der Anteil autistischer Störungen bei achtjährigen Jungen sogar bei fast sieben Prozent. In Maryland und Arizona lagen die Werte dagegen bei unter 2,5 Prozent.
„Diese Daten sind überraschend, vor allem die aus Kalifornien“, sagt Zahorodny. Denn dies sei die mit Abstand höchste Autismusrate, die jemals irgendwo ermittelte wurde. Ein beträchtlicher Teil dieser Fälle könnte zwar auf die besonders intensiven Screening-Programme zurückgehen, die es unter anderem in San Diego gibt. Gleichzeitig bestätigen sie aber einen regionalen Trend, der schon vor 20 Jahren als „Geek-Syndrom“ vor allem im Silicon Valley auffiel.
Keine seltene Erkrankung
Insgesamt bestätigen die neuen Daten den Trend zu immer mehr Autismus-Diagnosen. Es bleibt aber weiter unklar, in welchem Maße dies eine tatsächliche Zunahme der Fälle widerspiegelt. „Das Problem ist, dass wir noch immer nicht wissen, was die Haupttreiber dieser Zunahme sind“, erklärt Zahorodny. Klar sei aber, dass Störungen des Autismus-Spektrums deutlich verbreiteter sind als früher angenommen. „Autismus galt früher als seltene Erkrankung. Aber die aktuellen Zahlen legen nahe, dass dies sogar eine der häufigsten Störungen überhaupt sein könnte“, sagt der Forscher.
In Deutschland fehlen bisher ähnlich systematische Erhebungen wie in den USA, daher lässt die Häufigkeit von Autismus hierzulande weniger gut abschätzen. (MMWR Morbidity and Mortality Weekly Report, 2023; doi: 10.15585/mmwr.ss7202a1; doi: 10.15585/mmwr.ss7201a1)
Quelle: Centers of Disease Control, Rutgers University