Rätselhaftes Phänomen: Die ersten drei Jahre unseres Lebens sammeln wir entscheidende Erfahrungen, trotzdem können wir uns an diese Zeit nicht erinnern. Aber warum? Liegt es daran, dass Kleinkinder noch keine echten Erinnerungen anlegen? Oder sind diese Gedächtnisinhalte vorhanden, aber nicht mehr abrufbar? Erste Hinweise auf die Ursache dieser kindlichen Amnesie haben Forschende nun durch Hirnscans bei Babys entdeckt, wie sie in „Science“ berichten.
Wenn wir an unsere frühe Kindheit zurückdenken, bleiben unsere ersten Lebensjahre meist im Dunkeln: Bei den meisten Menschen setzen die frühesten Erinnerungen erst ab einem Alter von etwa drei Jahren ein. Die entscheidenden Phasen unserer Kleinkindzeit, von den ersten Schritten über die ersten Wörter bis zum Beginn der Kindergartenzeit, scheinen in unserem Gedächtnis zu fehlen. Aber warum?
„Die infantile Amnesie stellt ein Paradoxon dar: Das Gehirn eines Säuglings ist eine außergewöhnliche Lernmaschine, die eine immense Plastizität aufweist. In den ersten Lebensjahren erwerben wir eine erstaunliche Bandbreite an Fähigkeiten – von Sprache und motorischer Koordination bis hin zum Erkennen sozialer Hierarchien und der Unterscheidung von links und rechts“, erklärt der nicht an der Studie beteiligte Hirnforscher Flavio Donato von der Universität Basel.
„Doch warum behalten wir angesichts dieser außergewöhnlichen Lernfähigkeit keine expliziten Erinnerungen an diese Zeit?“, so Donato weiter. Bisher ist die Ursache der kindlichen Amnesie strittig. Eine Erklärung besagt, dass der für das episodische Gedächtnis verantwortliche Hippocampus in unserem Gehirn in den ersten Lebensjahren noch nicht ausgereift genug ist, um Erinnerungen zu speichern. Andere Erklärungsansätze gehen eher davon aus, dass die Erinnerungen zwar gespeichert werden, aber im späteren Leben nicht mehr abrufbar sind.
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Bildmemory für Kleinkinder
Um diesem Paradoxon auf die Spur zu kommen, haben Tristan Yates von der Columbia University in New York und seine Kollegen 26 Babys im Alter von vier bis 25 Monaten auf die Probe gestellt. Sie wollten herausfinden, ob diese Säuglinge und Kleinkinder schon Erinnerungen bilden können. Dafür zeigten die Forschenden ihren kleinen Probanden eine Reihe von Bildern, darunter Gesichter, Objekte und Landschaften. In einem zweiten Durchgang sahen die Babys jeweils zwei Bilder, eines war ihnen unbekannt, das andere hatten sie in einigen Fällen schon einmal gesehen.
Yates und sein Team beobachten dabei, wie lange die Kinder die gezeigten Bilder fixierten. Die Idee dahinter: „Wenn Babys etwas schon einmal gesehen haben, erwarten wir, dass sie es beim nächsten Mal genauer betrachten“, erklärt Koautor Nicholas Turk-Browne von der Yale University. „Wenn ein Säugling bei dieser Aufgabe also mehr auf das bekannte Bild schaut als auf das neue Bild daneben, kann das so interpretiert werden, dass das Baby sich daran erinnert und es als vertraut erkennt.“
Während der Bildertests zeichneten die Forschenden die Hirnaktivität der Kinder mit Hilfe von funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) auf. Dadurch konnten sie beobachten, was dabei im Gehirn der Babys und im speziellen in ihrem Hippocampus passierte.
Kodierung im Hippocampus
Es zeigte sich: Die Babys zeigten tatsächlich ein erhöhtes Interesse an zuvor gesehenen Bildern. Dieses Erinnern war eng mit der Aktivität ihres Hippocampus verknüpft, wie die fMRT-Aufnahmen enthüllten. Je stärker das Gedächtniszentrum der Babys beim ersten Anblick eines Bildes aktiv war, desto länger betrachteten sie beim zweiten Mal dieses Bild. Die höchste Aktivität war dabei im hinteren Bereich des Hippocampus zu beobachten, der auch bei Erwachsenen am stärksten mit dem episodischen Gedächtnis in Verbindung gebracht wird, wie das Team berichtet.
„Das deutet darauf hin, dass die Fähigkeit, individuelle Erinnerungen zu kodieren, bereits im Säuglingsalter aktiviert wird“, erklären Yates und seine Kollegen. Am deutlichsten ausgeprägt war der Effekt bei kindlichen Versuchsteilnehmern, die bereits ihr erstes Lebensjahr vollendet hatten. Die Forschenden gehen deshalb davon aus, dass das episodische Gedächtnis ab einem Alter von etwa zwölf Monaten grundlegend dazu in der Lage ist, Erinnerungen zu kodieren.
Warum verschwinden die Erinnerungen?
„Die aktuelle Studie zeigt auf beeindruckende Weise, dass Kleinkinder wahrscheinlich bereits ab dem ersten Lebensjahr den Hippocampus für die Enkodierung erlebter Episoden nutzen“, kommentiert der Neurobiologe Jan Born von der Universität Tübingen, der nicht an der Studie beteiligt war. „Die Befunde sprechen damit gegen die landläufig vorgetragene Sichtweise, dass die infantile Amnesie Folge eines unreifen Hippocampus ist. Sie lösen aber nicht das Rätsel, warum diese frühkindlichen Ereignisse, nachdem sie enkodiert wurden, aus dem episodischen Gedächtnis wieder verschwinden.“
Um diese Frage zu klären, sind weitere Studien erforderlich. Yates und seine Kollegen vermuten jedoch, dass die frühkindlichen Erinnerungen zwar gespeichert, aber nicht mehr abrufbar sind. „Diese Erkenntnis ist auch mit jüngsten Erkenntnissen aus Tierversuchen vereinbar, nach denen die kindliche Amnesie kein Problem der Kodierung, sondern des Abrufens ist“, sagt Turk-Browne.
Wie lange halten sie?
Ebenfalls noch nicht geklärt ist, wie lange unsere Erinnerungen aus der Kleinkindzeit erhalten bleiben: Sind sie ähnlich dauerhaft wie die im Erwachsenenalter abgespeicherten Gedächtnisinhalte oder verblassen sie schneller? Yates und sein Team testen dies zurzeit bereits in einer Folgestudie. Erste Daten daraus deuten darauf hin, dass die frühkindlichen Erinnerungen zumindest bis zum Vorschulalter bestehen bleiben könnten.
„Wir arbeiten daran, die Dauerhaftigkeit von Hippocampus-Erinnerungen über die Kindheit hinweg zu verfolgen, und beginnen sogar, die radikale, fast unheimliche Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie in irgendeiner Form bis ins Erwachsenenalter fortbestehen, obwohl sie unzugänglich sind“, sagt Turk-Brown. (Science, 2025; doi: 10.1126/science.adt7570)