Endliche Reserven: Warum macht uns Stress so gereizt und aggressiv? Und warum fällt es uns manchmal schwerer, unsere Gefühle zu kontrollieren? Das haben Forschende nun in einem Experiment geklärt. Schuld ist demnach eine Erschöpfung des Gehirns, das unsere Impulse nur eine begrenzte Zeit kontrollieren kann. Ist diese Selbstkontrolle erschöpft, fallen die für Impulskontrolle zuständigen Hirnareale in einen schlafähnlichen Zustand – und wir werden aggressiver und unsozialer. Allerdings gibt es individuelle Unterschiede.
Um im Umgang mit unseren Mitmenschen nicht anzuecken, kontrollieren wir in der Regel unsere Impulse: Wir versuchen, nicht unbeherrscht und rein instinktgesteuert zu handeln, sondern zunächst die Konsequenzen und unsere Absichten zu überdenken und dann unser Verhalten entsprechend anzupassen.
Diese Impulskontrolle erfordert allerdings ein gewisses Maß an geistiger Anstrengung. Wenn wir müde oder überarbeitet sind, fällt es uns schwerer, unseren Impulsen nicht nachzugeben. Forscher vermuten daher seit Langem, dass unsere Ressourcen zur Selbstbeherrschung begrenzt sind. Doch zehren anstrengende Aufgaben bei allen Menschen gleichermaßen an der Selbstkontrolle? Und wie schnell ist unser Limit erreicht? Bisherige Studien haben dazu widersprüchliche Ergebnisse hervorgebracht.
Provokation der Selbstbeherrschung
Ein Team um Erica Ordali von der IMT School for Advanced Studies in Lucca hat diese Fragen zur menschlichen Impulskontrolle nun genauer untersucht. Dafür testeten die Neurowissenschaftler in zwei Experimenten das Verhalten von insgesamt 447 Personen. Die Probanden führten dafür 45 Minuten lang geistig anspruchsvolle Entscheidungs-Aufgaben durch. Von einigen Testpersonen wurde dabei Selbstbeherrschung verlangt, von den übrigen nicht. Währenddessen zeichneten die Forscher per EEG die Hirnaktivität der Testpersonen auf.
Anschließend testeten Ordali und ihr Team, welche Folgen diese geistige Anstrengung auf das soziale und emotionale Verhalten ihrer Testpersonen hat. Dafür absolvierten diese mehrere in der Forschung gängige Spiele, in denen es um das Teilen von fiktiven Geldsummen mit Partnern geht. Diese erlauben es, soziales Verhalten wie Kooperation und Fairness zu untersuchen.
Erschöpfte Selbstkontrolle zeigt sich im Gehirn und im Verhalten
Die EEG-Aufnahmen verrieten: Das Gehirn der Testpersonen mit den Selbstkontrolle erfordernden Anfangsaufgaben fiel danach in einen schlafähnlichen Zustand mit langsamen Gehirnwellen, obwohl die Personen wach waren – ein Zeichen für mentale Ermüdung. Besonders davon betroffen waren Areale im Frontal- und Temporallappen des Gehirns – Gyrus frontalis inferior und Gyrus temporalis medius –, die für die Entscheidungsfindung und Impulskontrolle wichtig sind, wie das Team berichtet.
Die Folgen dieses Zustands zeigten sich in manchen der anschließenden Spiele: Die erschöpften Testpersonen reagierten tendenziell feindseliger und antisozialer als die Probanden, deren Selbstkontrolle zuvor nicht strapaziert wurde und deren EEG keine Ermüdung aufzeigte. „Wenn die Akteure sich entscheiden können, eine Konfliktsituation friedlich oder aggressiv zu lösen, entscheiden sich erschöpfte Individuen eher für die aggressive Alternative“, berichtet das Team. Sie entscheiden sich auch öfter für boshafte und willkürliche Bestrafungen ihrer Mitspieler.
„Wir haben damit gezeigt, dass eine längere Ausübung der Selbstkontrolle zu Veränderungen der neuronalen Aktivität in den für die Verhaltenskontrolle entscheidenden Bereichen des Frontalkortex führen und eine erhöhte Neigung zu aggressiven Entscheidungen bei sozialen Interaktionen zur Folge haben kann“, schreiben die Neurowissenschaftler.
Wann gerät unsere Selbstbeherrschung an ihr Limit?
Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass unsere Selbstkontrolle spätestens nach 45 Minuten stark erschöpft ist. Diese geistige Ermüdung begünstigt dann impulsives, aggressives Verhalten und verringert prosoziale Reaktionen. Stehen wir länger unter Stress, reagieren wir im Alltag dementsprechend gereizt und ungehemmt.
Allerdings ist die dafür nötige Zeitspanne individuell unterschiedlich, wie Vergleiche mit früheren Studien mit kürzeren Provokations-Aufgaben nahelegen. Demnach können sich manche Menschen schon nach zehn Minuten nervenzehrender Entscheidungen nur noch schwer beherrschen, bei anderen liegt dieses Limit irgendwo zwischen zehn und 45 Minuten. Wann genau unsere Selbstkontrolle erschöpft ist, hängt jedoch wahrscheinlich nicht nur von der Dauer der Stresssituation ab, sondern auch von deren Intensität, betonen Ordali und ihre Kollegen.
Neben der Frage nach dem individuellen Ressourcenumfang sind jedoch noch weitere Fragen offen. „Die vorliegenden Ergebnisse erlaubten es uns nicht, einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen schlafähnlicher Gehirnaktivität und Entscheidungsfindung nachzuweisen, was Gegenstand künftiger Forschung sein sollte“, schreibt das Team. Folgestudien sollen auch klären, warum sich das stressbedingte aggressive Verhalten nicht in allen verwendeten Testspielen zeigte. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2024; doi: 10.1073/pnas.2404213121)
Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS)