Was denkt mein Gegenüber? Diese Frage stellen wir uns bewusst und unbewusst unzählige Male in unserem Alltag – und oft liegen wir dabei richtig. Möglich macht dieses sich Hineindenken eine besondere Verschaltung mehrerer Regionen in unserem Gehirn, wie nun Neurologen herausgefunden haben. Demnach spricht ein evolutionär alter Teil unseres Hirns, der für Gefühle zuständig ist, mit neueren Arealen in unserem Gehirn, die unser soziales Miteinander steuern. Die Erkenntnisse könnten künftig die Behandlung von Angststörungen erleichtern.
Wir alle kennen es: Kaum haben wir eine Party verlassen, beschäftigen uns plötzlich aufdringliche Gedanken. Habe ich zu viel geredet? Hat mein Witz andere beleidigt? Haben sie sich amüsiert? Unser Gehirn denkt viel darüber nach, was in den Köpfen anderer Menschen vor sich geht. „Im Wesentlichen versetzt man sich in den Geist einer anderen Person und zieht Rückschlüsse darauf, was diese Person denkt, wenn man es nicht wirklich wissen kann“, sagt Seniorautor Rodrigo Braga von der Northwestern University. Neurowissenschaftler und Psychologen bezeichnen diese Fähigkeit zur Perspektivübernahme auch als „Theory of Mind“.
Blick ins Gehirn beim Gedankenraten
Aber warum können wir uns in andere hineinversetzen, während dies viele Tiere nicht oder nur zum Teil können? Was passiert bei dieser Form des Grübelns in unserem Gehirn? Dieser Frage ist nun ein Team um Donnisa Edmonds von der Northwestern University nachgegangen. Dafür analysierten die Neurologen mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) die Hirnaktivität von sechs Studienteilnehmern.
Diese hochauflösenden Hirnscans zeigen anhand von Veränderungen des Blutsauerstoffgehalts, welche Areale unseres Gehirns aktiv sind. Während der Aufnahmen sollten die Testpersonen Fragen darüber beantworten, wie sich eine andere Person in einer fiktiven Situation möglicherweise fühlt oder was sie denken könnte.
„Reptilienhirn” spricht mit „modernem” Hirn
Die Auswertung ergab, dass beim Rekapitulieren unserer Handlungen und dem sich Hineindenken in andere Menschen mehrere Teile unseres Gehirns aktiv werden. Darunter sind Areale im sogenannten „sozialen kognitiven Netzwerk“, deren Beteiligung zuvor unbekannt war. „Weil wir so hochauflösende Daten hatten, konnten wir beteiligte Netzwerkregionen identifizieren, die wir vorher nicht sehen konnten“, sagt Edmonds.
Diese Hirnregionen gehören zu einem evolutionär jungen und hoch entwickelten Teil unseres Gehirns und sind für soziale Interaktionen zuständig. Wenn wir über uns und unsere Mitmenschen grübeln, kommuniziert dieses „soziale kognitive Netzwerk“ jedoch zusätzlich mit einem evolutionär alten Teil des Gehirns, der Amygdala, wie die Hirnscans enthüllten. Die Amygdala, auch Mandelkern genannt, ist Teil unseres „Reptiliengehirns“, das unsere frühen tierischen Vorfahren schon vor hunderten Millionen Jahren entwickelten.
Ständige Kommunikation zwischen Amygdala-Kern und Sozialnetzwerk
Die Amygdala erkennt Bedrohungen und verarbeitet primitive Angstgefühle. Beim Anblick einer Schlange sorgt sie beispielsweise für Herzrasen und verschwitzte Hände. Zudem sorgt die Amygdala dafür, dass wir Gefühle in der Mimik anderer lesen können. Aber sie ist auch für soziale Belange zuständig: „Zum Beispiel ist die Amygdala für soziales Verhalten wie Elternschaft, Paarung, Aggression und das Navigieren durch soziale Dominanzhierarchien verantwortlich“, erklärt Braga.
„Frühere Studien haben bereits eine Koaktivierung der Amygdala und des sozialen kognitiven Netzwerks festgestellt“, sagt Braga. „Neu ist hingegen die Erkenntnis, dass diese Kommunikation immer stattfindet.“ Die Hirnscans zeigten auch erstmals, dass diese Kommunikation zwischen Amygdala und dem sozialen kognitiven Netzwerk über den sogenannten medialen Kern der Amygdala (MeA) erfolgt. Dieser ist demnach für das soziale Verhalten sehr wichtig, so das Team.
Grübeln über Mitmenschen, eine „neu“ erworbene Fähigkeit?
Die Neurologen schließen aus ihren Beobachtungen, dass diese alten und neuen Hirnareale beim Hineindenken in unsere Mitmenschen zusammenarbeiten. Dabei ergänzen sie sich gegenseitig, indem die Amygdala dem sozialen kognitiven Netzwerk einen Zugang zu wichtigen, mit dieser Perspektivübernahme verknüpften Emotionen gibt.
Die Lage der beteiligten neueren Hirnregionen und die Tatsache, dass sie bei Menschen überproportional groß sind, legt zudem nahe, dass nur wir Menschen und möglicherweise unsere nahen Primatenverwandten so intensiv über unser soziales Miteinander nachdenken. „Die Teile unseres Gehirns, die uns dies ermöglichen, befinden sich in Regionen, die sich erst spät im Laufe unserer Evolution ausgedehnt haben. Das impliziert, dass es sich um einen erst ‚kürzlich‘ entwickelten Prozess handelt“, sagt Braga.
Neue Möglichkeiten bei Depressionen und Angststörungen
Die neuen Erkenntnisse geben nicht nur Einblicke in die Hintergründe der „Theory of Mind“, sie könnten künftig auch helfen, Angstzustände und Depressionen zu behandeln. Denn bei beiden Erkrankungen ist die Amygdala hyperaktiv, was zu übermäßigen emotionalen Reaktionen und einer gestörten Gefühlskontrolle führt. Zwar können beide Erkrankungen bereits jetzt durch eine tiefe Hirnstimulation behandelt werden. Allerdings erfordert das eine OP, weil sich die Amygdala tief im Gehirn befindet, hinter den Augen.
Die neu identifizierten Hirnareale, die beim Hineindenken mit der Amygdala verbunden sind, liegen hingegen in der Hirnrinde, näher am Schädel und sind leichter zu erreichen. Die Amygdala könnte daher künftig indirekt über diese Partnerareale und über ein weniger invasives Verfahren, die transkranielle Magnetstimulation (TMS), stimuliert werden, um psychische Erkrankungen zu lindern. (Science Advances, 2024; doi: 10.1126/sciadv.adp0453)
Quelle: Northwestern University