Subtile Verzerrung: Ob Infektionszahlen oder Wirtschaftsdaten – wie wir einen statistischen Trend einschätzen, hängt überraschend stark von der Form des Diagramms ab, wie ein Experiment enthüllt. Demnach sehen wir einen Trend pessimistischer, wenn er uns als Balkendiagramm präsentiert wird, als wenn wir ihn als Linie oder Punktwolke sehen. Dieser psychologische Verzerrungseffekt wirkt zudem unabhängig von der Richtung des Trends und der Färbung der Balken.
In der Wissenschaft, der Wirtschaft, aber auch im Alltag spielen Diagramme eine wichtige Rolle. Sie ermöglichen es uns, komplexe statistische Zusammenhänge und Entwicklungen zu verstehen und daraus Entscheidungen und Prognosen abzuleiten. Doch so hilfreich solche visuellen Darstellungen sind – sie können auch in die Irre führen. Schon länger ist klar, dass beispielsweise Merkmale wie Maßstab, Achsenausschnitte und auch Färbungen unsere Einschätzung der im Diagramm abgebildeten Daten beeinflussen.
Balken, Linien oder Punkte
Einen weiteren Verzerrungs-Effekt haben nun Stian Reimers und Nigel Harvey vom University College London aufgedeckt. Sie wollten wissen, inwieweit die aufgrund eines abgebildeten Trends gemachten Prognosen von der Darstellungsform beeinflusst werden. Dafür zeigten sie ihren insgesamt mehr als 4.000 Testpersonen Diagramme von jeweils 50 Datenpunkten, die als Balkendiagramm, Linie oder Punktwolke dargestellt waren. Je nach Versuchsdurchgang waren die Trends in unterschiedlichem Maße auf- oder absteigend.
Die Testpersonen erhielten die Information, dass es sich dabei um wöchentliche Verkaufszahlen eines Unternehmens handelte. Ihre Aufgabe war es, anhand der dargestellten Daten die Verkaufserfolge der kommenden acht Wochen vorherzusagen. „Wenn dieselbe Datenreihe als Balken-, Linien- oder Punktdiagramm zu unterschiedlichen Prognosen führt, dann ist es wichtig zu wissen, wie und warum“, konstatieren die Forscher.
Negativere Prognosen bei Balkendiagrammen
Und tatsächlich: Bei der Einschätzung der Trends und den darauf basierenden Prognosen gab es deutliche formatabhängige Unterschiede. „Die Teilnehmenden machten pessimistischere Vorhersagen, wenn sie Balkendiagramme sahen als bei den Linien- oder Punktdiagrammen“, berichten Reimers und Harvey. Obwohl den Grafiken exakt die gleichen Daten zugrunde lagen, fielen ihre Prognosen bei Balkendiagrammen negativer aus. „Diese Effekt zeigte sich sowohl bei aufsteigenden wie absteigenden Trends“, so die Forscher.
Doch warum machen uns ausgerechnet die Balken pessimistischer? Welches Merkmal verleitet uns zu dieser verzerrten Einschätzung? Um das herauszufinden, führten Reimers und Harvey weitere Tests. In diesen setzten sie verschiedene hell und dunkel gefärbte Balkendiagram-Versionen ein und kehrten in einem Durchgang die Balken so um, dass sie von oben herunterhingen. Außerdem veränderten sie in einer Testvariante das Liniendiagramm so, dass die Linie in Stufen auf- oder abstieg – im Prinzip ähnlich wie die Oberkanten der Balken.
Farbe spielt keine Rolle, wohl aber die Ausrichtung
Diese Tests ergaben: Die Färbung der Balken ändert den Verzerrungseffekt nicht, helle wie dunkle Balken führen zu pessimistischeren Prognosen als die anderen Diagrammtypen. Ähnliches ergab der Vergleich mit den gestuften Linien: Auch dann bleiben die Vorhersagen der Testpersonen für die Balkentrends negativer. Die gestuften Kanten oder die stärker betonte Fläche der Balken sind demnach nicht für diesen Effekt verantwortlich, so die Wissenschaftler.
Interessant jedoch: Kehrten die Forscher die Balkenrichtung um, so dass diese von oben herabhingen, trat die Verzerrung zwar noch immer auf – aber die Richtung kehrte sich um. „Die Prognosen auf Basis der hängenden Balken waren nun positiver als bei den Liniendiagrammen“, berichten Reimers und Harvey. Sie führen dies auf einen optischen Effekt zurück, durch den Teilnehmende die Länge der Balken und ihre Entwicklung bei normaler Ausrichtung her unterschätzen, beim Herabhängen aber überschätzen.
Subtile Manipulation
All dies bestätigt, dass die visuelle Darstellung einen erheblichen Einfluss darauf hat, wie wir Daten und Trends interpretieren. „Unsere Vorhersagen darüber, was weiter passieren wird, werden nicht nur von den Daten beeinflusst, sondern auch von deren Formatierung“, sagt Reimers. „Es ist offensichtlich, dass dies erhebliche Bedeutung hat – auch im Alltag. Denn auf dieser Basis überlegen wir beispielsweise, ob wir während einer Pandemie Verwandte treffen könne oder ob wir uns eine Hypothek leisten können.“
Nach Ansicht der Forscher fällt damit eine erhebliche Verantwortung auf diejenigen, die solche Diagramme erstellen. Denn sie können unsere Einschätzungen manipulieren. „Wenn ein Fondsmanager die bisherige Entwicklung als Liniengrafik zeigt, kann er potenzielle Anleger zu optimistischeren Erwartungen an künftige Gewinne verleiten“, erklären die Wissenschaftler. „Umgekehrt kann eine Verbrechensstatistik eine beruhigendere Wirkung haben, wenn sie als Balkengrafik präsentiert wird.“
Chance zum Gegensteuern
Gleichzeitig bietet das Wissen um diese Effekte aber auch die Möglichkeit, andere weniger leicht beeinflussbare Verzerrungen dadurch auszugleichen: „Viele dieser Verzerrungen sind tief in unserer Weltsicht verankert und daher schwer zu ändern“, erklärt Reimers. „Im Gegensatz dazu können wir das Diagrammformat leicht kontrollieren – und es vielleicht bewusst einsetzen, um andere verfälschende Effekte auszugleichen.“ (International Journal of Forecasting, 2023; doi: 10.1016/j.ijforecast.2022.11.003)
Quelle: City University London