Das Problem jedoch: „Diese Studien verglichen immer nur zwei Sprachen miteinander, meist Englisch mit Mandarin oder kantonesisch“, erklärt Liu. Aber bei Testpersonen aus so unterschiedlichen Kulturkreisen spielen neben der Sprache auch viele andere Einflussfaktoren eine Rolle. „Wenn man nur zwei solcher Gruppen vergleicht, ist es daher sehr schwer, diese kulturellen Einflüsse von den sprachlichen zu trennen“, so Liu. Hinzu kommt, dass andere Studien keinen Zusammenhang von Sprachart und melodischem Gehör finden konnten.
Hörtests für rund 500.000 Menschen
Deshalb haben Liu und ihr Team diesen möglichen Zusammenhang noch einmal genauer untersucht und ihn um eine weitere Fragestellung ergänzt: Sie wollten auch wissen, inwieweit die Muttersprache das Rhythmusgefühl beeinflusst. Dafür verglichen sie mithilfe einer Online-Studie die musikalischen Fähigkeiten von rund 500.000 Menschen in 203 Ländern. Unter den 54 von diesen Testpersonen gesprochenen Muttersprachen waren 19 tonale und 29 nicht-tonale Sprachen.
Alle Testpersonen erhielten drei Typen von Höraufgaben in jeweils unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden: Sie sollten erkennen, ob sich zwei sehr ähnliche Melodien unterscheiden, ob ein Beat im Takt zum Lied spielt und ob eine Stimme in der richtigen Tonhöhe zur Begleitung singt.
Tonale Sprachen erkennen Melodien besser
Das Ergebnis: Menschen mit einer tonalen Muttersprache scheinen tatsächlich ein besser ausgeprägtes melodisches Gehör zu haben. „Die Muttersprachler unserer 19 tonalen Sprachen waren besser darin, zwischen den ähnlichen Melodien zu unterscheiden“, berichtet Liu. Sie schnitten bei diesen Tests durchschnittlich um rund 22 Prozent besser ab als Menschen mit nicht-tonaler Muttersprache. Diese Unterschiede waren zudem unabhängig von Kulturkreis, Bildung oder anderen Faktoren.
Überraschend waren dagegen die Resultate der beiden anderen Tests. Anders als erwartet brachten die tonalen Sprachen keine Vorteile beim Hören „schiefer“ Töne einer Singstimme. Dies widerspricht der Annahme, dass die Tonhöhen-Modulationen beispielsweise im Chinesischen auch das Gehör in Bezug auf die richtige Tonhöhe und damit Frequenz schulen. „In Bezug auf diese Fähigkeit scheinen tonale Sprachen nur minimalen bis keinen Einfluss zu haben“, so die Forschenden.
Defizite im Taktgefühl
Die zweite Überraschung: Der Vorteil der tonalen Sprachen beim melodischen Gehör wird durch Nachteile beim Rhythmusgefühl erkauft. „Testpersonen mit tonalen Sprachen schnitten bei den Rhythmustests deutlich schlechter ab als Muttersprachler nicht-tonaler Sprache“, berichten Liu und ihr Team. Der Unterschied lag auch hier bei rund 22 Prozent und war damit ziemlich deutlich. Auch hierbei spielten Kulturkreis und andere Einflussfaktoren nur eine geringe Rolle.
Warum Menschen mit tonaler Sprache ein schlechteres Taktgefühl haben als beispielsweise Deutsch oder Englisch sprechende Menschen ist noch nicht vollständig geklärt. Die Wissenschaftler vermuten aber, dass dies auf unterschiedliche Prioritäten bei der Sprachwahrnehmung zurückgeht: Weil der Rhythmus für die tonalen Sprachen weniger wichtig ist als die Tonhöhe, wird dieser weniger beachtet. Dadurch ist auch das Gehirn weniger gut auf darauf trainiert.
Enge Wechselwirkung
Zusammengenommen stützen diese Ergebnisse die Vermutung, dass unsere Muttersprache auch allgemeine Aspekte unserer akustischen Wahrnehmung prägt. Je nach Muttersprache verdanken wir ihr ein gutes melodisches Gehör oder ein gutes Taktgefühl – zumindest im Durchschnitt. Das heißt nicht, dass es nicht auch unter Deutschsprachigen völlig „taktblinde“ Menschen gibt oder Menschen mit nahezu perfektem Melodiegehör. Zudem kann musikalisches Training einige Defizite ausgleichen.
Wie genau die Spracherfahrungen unsere Wahrnehmung prägen und welche neuronalen Mechanismen dahinter stehen, ist noch offen. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf, wie Liu und ihre Kollegen betonen. (Current Biology, 2023; doi: 10.1016/j.cub.2023.03.067)
Quelle: Cell Press
27. April 2023
- Nadja Podbregar