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Neurowissenschaften

Wie unser Gehirn Rückschlüsse zieht

Hirnströme verraten Lernprozess beim abstrakten Denken

Illustration von abstraktem Denken und Schlussfolgern im Straßenverkehr
In New York und London gelten unterschiedliche Verkehrsregeln. Unser Gehirn muss darauf reagieren, das bestehende Wissen abstrahieren und daraus Regeln für die neue Situation ableiten. © Columbia’s Zuckerman Institute

Um die Ecke gedacht: Wenn wir unser Wissen auf neue Situationen anwenden wollen, müssen wir abstrakt denken. Tun wir dies, spiegelt sich das in einem geometrischen neuronalen Muster in unserem Gehirn wider, wie Neurowissenschaftler herausgefunden haben. Demnach arbeiten unsere Nervenzellen wie bei einer Vogelformation koordiniert zusammen, um in unbekannten Situationen aus unserer Erfahrung kluge Entscheidungen abzuleiten. Dieser Lernprozess findet im Hippocampus statt, wie das Team in „Nature” berichtet.

Wenn wir uns zum ersten Mal im Londoner Straßenverkehr bewegen, müssen wir uns an den für uns ungewohnten Linksverkehr in Großbritannien anpassen. Das erfordert es, zuvor erlernte Verkehrsregeln gedanklich umzudrehen und auf die neue Situation anzuwenden. Als Fußgänger müssen wir beispielsweise beim Überqueren der Straße in die andere Richtung schauen und als Fahrer auf der anderen Seite fahren.

„Um sich auf die Fahrerseite zu konzentrieren und nicht in den Gegenverkehr zu geraten, bedarf es der Abstraktion und der Schlussfolgerung“, erklärt Seniorautor Ueli Rutishauser vom Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles. „Abstraktion ermöglicht es uns, irrelevante Details zu ignorieren und uns auf die Informationen zu konzentrieren, die wir zum Handeln benötigen. Schlussfolgerung ist die Anwendung von Wissen, um fundierte Vermutungen über unsere Umwelt anzustellen.” Um uns in neuen Situationen angemessen zu verhalten, benötigen wir daher beide kognitiven Prozesse. „Beides sind wichtige Bestandteile des Denkens und Lernens”, so Rutishauser.

Ärztin und Patientin im Krankenhaus
Die Neurologin Chrystal Reed mit einer Epilepsie-Patientin im Krankenhaus. Die Hirnaktivität untersuchten die Neurowissenschaftler mittels implantierter Elektroden im Gehirn. © Cedars-Sinai

Was passiert im Gehirn, wenn sich die Regeln ändern?

Doch was passiert dabei in unserem Gehirn? Das hat nun ein Team um Rutishauser und Erstautor Hristos Courellis vom Cedars-Sinai Medical Center untersucht. Dafür analysierten die Neurowissenschaftler die Hirnaktivität von 17 Epilepsie-Patienten, denen zu Diagnosezwecken Elektroden in den Hippocampus und weitere Hirnareale implantiert worden waren. Dies ermöglichte es dem Team, die Reaktion bis auf einzelne Neuronen genau aufzuzeichnen.

Während der Messungen absolvierten die Testpersonen eine Zuordnungsaufgabe: Ihnen wurden wiederholt vier Bilder gezeigt – von einer Person, einem Affen, einem Auto und einer Melone. Durch Rückmeldungen lernten die Probanden, bei welchem dieser Motive sie auf einen linken oder rechten Knopf drücken sollten. Dann drehten die Forschenden die Regeln jedoch um, so dass jeweils der gegenteilige Knopf der „richtige“ war – allerdings, ohne die Probanden darüber zu informieren. Diese mussten die zuvor erlernten Regeln auf die neue Situation übertragen und daraus Schlüsse ziehen.

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Geometrisches Muster im Gehirn

Wie erwartet kamen nicht alle Testpersonen gleich gut mit der Regeländerung zurecht. Manche konnten schnell schlussfolgern, welches Prinzip den Bildern und Knöpfen nach dem Switch zugrunde lag, anderen gelang dies nicht.

Das spiegelte sich auch im Gehirn der Probanden, wie die KI-unterstütze Auswertung der Messdaten ergab: Nur bei denjenigen, die die zuvor erlernten Regeln abstrahieren und anwenden konnten, zeigten sich auffallend geometrische Muster in der Hirnaktivität. Dabei waren gleichzeitig verschiedene Neuronengruppen aktiv und bildeten eine geordnete Formation – ähnlich wie Vögel im Flug.

Courellis und seine Kollegen schließen daraus, dass diese Neuronen sich auf diese Weise koordinieren, um die für die Aufgabe notwendigen Information verarbeiten und auf die neue Situation anwenden zu können. Das neuronale Muster ist demnach grundlegend für abstraktes Denken und Schlussfolgerungen.

Hippocampus als zentraler Akteur

Einige Testpersonen konnten die Aufgabe allerdings erst lösen, nachdem die Forschenden ihnen die Regeländerung expliziert erklärten. Erstaunlicherweise traten dann aber ähnliche Hirnströme auf wie bei den Probanden, die keine Erklärung benötigten. „Bei Teilnehmenden, die verbale Anweisungen erhielten, traten die gleichen neuronalen Geometrien auf wie bei denen, deren Fähigkeit zu schlussfolgern auf erfahrungsbasiertem Lernen beruhte“, berichtet Koautor Adam Mamelak vom Cedars-Sinai Krankenhaus. „Dies zeigt, dass verbaler Input zu neuronalen Repräsentationen führen kann, die sonst lange brauchen würden, um sie durch Erfahrung zu lernen.“

Die Daten hielten zudem eine weitere Überraschung bereit: Die speziellen Muster in der Gehirnaktivität beim abstrakten Denken traten ausschließlich im Hippocampus auf. Diese Region liegt tief im Zentrum des Gehirns und ist unter anderem für das Langzeitgedächtnis und räumliche Orientierung entscheidend. Offenbar spielt der Hippocampus aber auch bei abstrakten Denk- und Transferleistungen eine noch größere Rolle als gedacht. „Dies ist der erste direkte Nachweis der Beteiligung des menschlichen Hippocampus am abstrakten Denken und Schlussfolgern”, sagt Rutishauser.

Hilfreiche Erkenntnisse für neurologische Erkrankungen

Die Studie zeigt, wie unser Gehirn es uns ermöglicht, neue Aufgaben auszuführen und dabei flexibel auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren und aus Erfahrungen zu lernen. Diese Erkenntnisse könnten künftig auch dabei helfen, neurologische und psychiatrische Erkrankungen besser zu behandeln, die Defizite im Gedächtnis und in der Entscheidungsfindung beinhalten.

„Viele neurologische Erkrankungen, einschließlich Alzheimer, Zwangsstörungen und Schizophrenie, betreffen diese Gehirnregion. Unsere Ergebnisse könnten helfen, die beeinträchtigte Entscheidungsfindung zu erklären, die wir bei diesen Patienten sehen“, so Rutishauser. (Nature, 2024; doi: 10.1038/s41586-024-07799-x)

Quellen: Cedars-Sinai Medical Center, Columbia University

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