Under pressure: In Gruppen fällt es uns manchmal schwer, unsere moralischen Urteile und Meinungen gegenüber Andersdenkenden zu verteidigen. Doch wie sieht es mit diesem psychologischen „Gruppendruck“ im virtuellen Raum aus? Ein Experiment zeigt, dass wir uns auch von digitalen Avataren beeinflussen lassen. In einigen Dingen reagiert unser moralischer Kompass in einer virtuellen Umgebung aber anders als in der echten Welt. Woran liegt das?
Gelegentlich ändern wir unsere Überzeugung und passen uns der Meinung von anderen an. Entweder, weil wir dem Druck einer sozialen Gruppe nachgeben und von anderen Menschen akzeptiert und gemocht werden wollen. Oder, weil unsere Meinung auf einem geringen Wissensstand beruht und wir den Eindruck haben, die anderen Gruppenmitglieder haben die Situation besser erfasst als wir selbst. Dann vertrauen wir eher den fremden Urteilen. Welche Rolle dabei die eigenen Werte und das eigene Moralverständnis spielen, wurde bislang allerdings kaum erforscht.
Eine Forschungsgruppe um Konrad Bocian von der SWPS Universität in Warschau hat den Einfluss dieser Aspekte bei der Meinungsbildung nun genauer untersucht. Dabei testeten die Psychologen auch, ob wir uns in einer virtuellen Umgebung anders verhalten als im echten Leben. Da soziale Interaktionen in der digitalen Welt zunehmen und dort verstärkt auch Avatare auftreten, interessierten sich die Forschenden besonders dafür, wie wir uns in dieser Umgebung eine Meinung bilden.
Nehmen wir Avatare anders wahr als Menschen?
Um das herauszufinden, führten Bocian und seine Kollegen zwei Experimente durch. Im ersten Experiment sollten 103 Testpersonen das Verhalten anderer Menschen moralisch beurteilen. Die Situationen umfassten beispielsweise eine Frau, die ihr Kind wegen schlechter Schulnoten schlägt, einen Mann, der im Kino laut telefoniert, oder eine Person, die einem Lehrer vor der Klasse widerspricht.
Zunächst beurteilten die Versuchsteilnehmenden diese Situationen einzeln, ob das Verhalten ihrer Meinung nach in Ordnung oder falsch ist. Zwei Wochen später erfolgte der Test in einer Gruppe: Ihnen wurden je drei andere Testpersonen zugeordnet, die in der ersten Runde auf dieselben Szenarien komplett gegensätzlich reagiert hatten. In dieser Gruppenkonstellation sollten die Teilnehmenden das Verhalten dann erneut bewerten.
Im zweiten Experiment wurden dieselben Gruppenversuche mit 138 Probanden in einer virtuellen Umgebung mit VR-Brillen durchgeführt. Die andersdenkenden Gruppenmitglieder waren dabei drei Avatare, die entweder von Menschen oder einer KI gesteuert wurden, wie die Psychologen den Testpersonen mitteilten.
Gruppendruck wirkt auch im digitalen Raum
Das Ergebnis: In der realen Umgebung änderten die Testpersonen häufiger ihre Meinung als in der virtuellen Umgebung. Während die Probanden im ersten Experiment in 43 Prozent der Fälle ihre Meinung an die der Gruppe anpassten, taten sie dies im zweiten Experiment mit menschlichen Avataren nur in 30 Prozent der Situationen. Waren die Avatare der virtuellen Umgebung von einer KI und nicht von einem Menschen gesteuert, änderten die Testpersonen in 26 Prozent der Fälle ihre Überzeugung.
Diese Beobachtungen legen nahe, dass wir sowohl in der echten Welt als auch in der digitalen Welt unter Gruppendruck gelegentlich unsere Meinung und moralische Überzeugung ändern, um uns anzupassen. Der Druck von Andersdenkenden wirkt sich allerdings unter Avataren weniger stark aus. „Wir können davon ausgehen, dass sich Menschen in der Gegenwart von Freunden, Familienmitgliedern oder in Gruppen eher anpassen, als wenn Fremde anwesend sind“, schließen Bocian und seine Kollegen.
Ob es sich bei den „Fremden“ um einen menschlichen Avatar oder eine KI handelt, spielt der Studie zufolge keine große Rolle. „Wir konnten keinen Unterschied in der Compliance der Teilnehmer zwischen KI-Avataren und menschengesteuerten Avataren feststellen. Der Unterschied war statistisch nicht signifikant“, schreiben die Forschenden.
Nicht alle unsere Überzeugungen sind beeinflussbar
Interessanterweise änderten die Probanden in einer realen Gruppe ihre Meinung seltener, wenn in den dargestellten Fällen Menschen körperlich zu Schaden kamen. Bei Fragen der Fairness, Autorität oder Loyalität ließen sich die Testpersonen hingegen leichter von einer abweichenden Einstufung durch die Gruppe überzeugen. Im zweiten Experiment, mit Avataren, beobachteten die Psychologen diese Trennung hingegen nicht.
Unser moralischer Kompass ist demnach abhängig von der jeweiligen Situation. Nach welchen Kriterien und unter welchen Umständen wir unsere Überzeugungen konkret verteidigen oder anpassen, müssen nun Folgestudien mit detaillierteren Fragestellungen zeigen. Dann soll auch genauer erforscht werden, ob die politische Überzeugung eine Rolle bei der Meinungsstärke spielt.
Gruppendruck könne im digitalen Raum sowohl für gute als auch für böswillige Zwecke ausgeübt werden, betonen die Psychologen. Um sich dagegen zu wappnen, müsse weiter erforscht werden, wie weit der Einfluss von Gruppen dort reicht. (PLoS ONE, 2024; doi: 10.1371/journal.pone.0298293)
Quelle: SWPS University