Hirngespinste? Neurologen haben ein Gehirnnetzwerk identifiziert, das an der Entstehung von radikalen religiösen Ansichten beteiligt sein könnte. Sind diese Hirnareale beschädigt, neigen die Betroffenen eher zu fundamentalistischen Überzeugungen. Das Muster der Hirnschäden ähnelt dabei dem von Menschen, die zu Hirngespinsten oder kriminellen Handlungen neigen. Die Forschenden warnen jedoch vor falschen Rückschlüssen angesichts dieser Befunde.
Religiöser Fundamentalismus ist ein anhaltendes Phänomen, das in verschiedensten Kulturen weltweit auftritt. Menschen radikalisieren sich in ihrem Glauben, halten starr an ihren religiösen Überzeugungen fest und verteidigen ihre vermeintlich „einzig wahre“ Weltsicht gegenüber „Ungläubigen“ – teils sogar mit Gewalt. Doch warum entwickeln sich manche Gläubigen zu Fundamentalisten und andere nicht?
Unser Sinn für Religion und Spiritualität liegt nachweislich in unserem Gehirn verwurzelt und religiöse Praktiken lösen messbare neuronale Reaktionen aus. Gibt es möglicherweise auch biologische Merkmale im Gehirn von Fundamentalisten?
Wirken sich Hirnläsionen auf die Einstellung aus?
Dieser Frage ist ein Team Michael Ferguson von der Harvard Medical School nachgegangen. Dafür analysierten die Neurologen und Psychiater die Gehirnstruktur von 190 Patienten, die wegen Hirnschäden in Behandlung waren. Diese Läsionen traten bei den Probanden infolge von Kriegstraumata, Schlaganfällen oder Tumoren auf. „Wir verwenden Läsionsnetzwerk-Mapping, eine Technik, die mithilfe von Konnektivitätsdaten funktionelle Gehirnnetzwerke identifiziert“, berichten die Forschenden.
Diese Methode liefert ein Muster der von den Schäden betroffenen Hirnareale, kann aber durch Vergleiche auch Zusammenhänge mit bestimmten Eigenschaften aufzeigen. Die neuronalen Analysen ergänzten Ferguson und seine Kollegen mit psychologischen Untersuchungen der Patienten hinsichtlich deren religiöser Überzeugungen.
Hirnschäden als Ursache für Fundamentalismus und Hirngespinste?
Das Ergebnis: „Wir fanden ein Netzwerk von Gehirnregionen, die, wenn sie beschädigt werden, mit stärkerem religiösem Fundamentalismus verbunden sind“, so das Team. Zu diesem überwiegend in der rechten Hirnhälfte liegenden neuronalen Netzwerk gehören unter anderem der rechte orbitofrontale Cortex, der dorsolaterale präfrontale Cortex und der untere Parietallappen. Dabei handelt es sich um verschiedene Teile des Stirnlappens und des Scheitellappens, die unter anderem für das logische Denken und Überprüfen von Argumenten wichtig sind.
Läsionen in diesen Hirnregionen könnten demnach Mitauslöser von fundamentalistischen Einstellungen sein, wie das Team berichtet. Erstaunlicherweise treten ähnliche Gehirnschäden auch bei Menschen auf, die sich kriminell verhalten und die erfundene Geschichten und Falschbehauptungen verbreiten, wie Vergleiche mit anderen Studiendaten ergaben. Dabei führen die Hirnschäden zu falschen Erinnerungen, so dass die Betroffenen ihre Lügengeschichten selbst für wahr halten.
„Dieses (mit Fundamentalismus assoziierte) funktionelle Netzwerk überlappt sich mit den Lokalisationen von Hirnläsionen, die mit bestimmten neuropsychiatrischen und Verhaltenszuständen verbunden sind“, so das Team. Religiöser Fundamentalismus und Hirngespinste könnten demnach dieselbe neurologische Grundlage haben.
Viele Faktoren tragen zu Fundamentalismus bei
Nach Ansicht der Neurologen helfen diese Befunde zu verstehen, warum sich religiöse Fundamentalisten häufig feindselig und aggressiv gegenüber Andersdenkenden verhalten. Ferguson und seine Kollegen warnen jedoch davor, ihre Ergebnisse zu überinterpretieren. „Viele Faktoren tragen zum Fundamentalismus bei, darunter affektive, kognitive, erfahrungsbezogene, genetische, familiäre, institutionelle, entwicklungsbezogene und kulturelle Variablen“, betont das Team.
Daher sind weder alle Patienten mit Läsionen in diesem neuronalen Netzwerk automatisch Fundamentalisten, noch weisen alle religiösen Fundamentalisten zwingend solche Gehirnschäden auf. Außerdem werden nicht alle Menschen mit starkem Glauben kriminell oder fantasieren Lügengeschichten, so die Forschenden. „Unsere Daten können uns vielmehr dabei helfen, die Art der kognitiven oder emotionalen Verarbeitung zu verstehen, die die Wahrscheinlichkeit fundamentalistischer Einstellungen erhöht oder verringert.“ (Proceedings of the National Academx of Scienes, 2024; doi: 10.1073/pnas.2322399121)
Quelle: Proceedings of the National Academx of Scienes (PNAS)