Überraschender Effekt: Physiker haben eine fundamentale Eigenheit von Protonen in Atomkernen enträtselt. Demnach haben diese Kernteilchen eine umso größere Bewegungsenergie, je mehr überzählige Neutronen der Atomkern enthält. Im Bleiatom gibt es daher mehr Protonen mit hohem Impuls als im Kohlenstoffatom, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten. Diese Erkenntnis könnte vor allem für das Innenleben und Verhalten von Neutronensternen wichtig sein.
Der Atomkern besteht aus einer dicht gepackten Ansammlung von ungeladenen Neutronen und positiv geladenen Protonen. Von der Kernkraft zusammengehalten, bewegen sie sich eher gemächlich in bestimmten Quantenorbitalen umeinander – so besagt es die gängige Lehrmeinung. Doch schon in den 1950er Jahren enthüllten Kollisionsexperimente in Teilchenbeschleunigern, dass es auch „Ausreißer“ gibt: Kurzlebige Paare aus einem Proton und einem Neutron, die mit hohem Impuls durch den Kern rasen.
Atomkerne unter Beschuss
Wie hoch der Anteil solcher besonders energiereicher Protonen und Neutronen ist und welche Rolle dafür der Neutronenanteil im Atomkern spielt, war bisher jedoch nur in Teilen klar. Um diese Fragen zu klären, haben nun Physiker der CLAS Collaboration um Meytal Duer von der Universität Tel Aviv gezielt Daten von Teilchenkollisionen an der Thomas Jefferson National Accelerator Facility in den USA ausgewertet.
Bei diesen Experimenten wurde ein energiereicher Elektronenstrahl auf die Kerne von Kohlenstoff, Aluminium, Eisen und Blei geschossen. Der Clou: Diese Atomkerne enthalten einen zunehmend höheren Anteil von Neutronen gegenüber Protonen. „Wir wollten von einem symmetrischen Kern ausgehen und dann schauen, was passiert, wenn mehr Neutronen dazukommen“, erklärt Koautor Or Hen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Je mehr Neutronen, desto mehr „Raser“
Das Ergebnis: Je mehr zusätzliche Neutronen die Atomkerne enthielten, desto mehr Protonen mit ungewöhnlicher hohem Impuls gab es in ihnen. „Wenn wir 50 Prozent mehr Neutronen im Kern hatten, bekamen wir auch 50 Prozent mehr Hoch-Impuls-Protonen als vorher“, berichtet Hen. Diese energiereichen Protonen rasten – vorübergehend mit einem Neutron verpaart – durch den Atomkern.
Anders ausgedrückt: „Mit zunehmender Neutronenzahl steigt der Anteil der Protonen mit hohem Impuls deutlich an, während der Anteil der Neutronen mit hohem Impuls sogar eher leicht abnimmt“, so die Forscher. „Dieser Effekt ist überraschend, weil nach dem klassischen Kernschalen-Modell die Protonen und Neutronen wenig miteinander zu tun haben und verschiedene Schalen füllen.“
Bedeutsam auch für Neutronensterne
Die neuen Erkenntnisse haben erhebliche Auswirkungen auf mehrere Gebiete der Kern- und Teilchenphysik, wie die Wissenschaftler betonen. Sie könnten unter anderem ein neues Licht auf die Interaktion von Kernteilchen untereinander, aber auch mit Neutrinos werfen. Auch für bestimmte Atomkern-Zerfälle sind diese „überaktiven “ Protonen relevant.
Spannend sind die Ergebnisse aber auch für das Verständnis ganz besonderer Himmelskörper – der Neutronensterne. Sie sind so extrem stark komprimiert und dicht, dass sie fast nur aus Neutronen bestehen. Protonen und Elektronen machen dagegen nur fünf bis zehn Prozent des Neutronensterns aus. Doch wie sich nun zeigt, könnte die extreme Neutronen-Überzahl die wenigen Protonen im Neutronenstern besonders „aktiv“ machen – und ihnen einen überproportional großen Einfluss verleihen.
Denn wie in den Atomkernen könnten unter diesen Bedingungen besonders viele Protonen mit hohem Impuls durch den Stern rasen. „Selbst wenn die Protonen die Minderheit in einem solchen Stern ausmachen, könnte diese Minderheit bestimmend sein“, sagt Hen. „Sie könnten sogar einige Eigenschaften von Neutronensternen bestimmen.“ Und diese wiederum könnten eine entscheidende Rolle bei der Kollision von Neutronensternen und damit einer der wichtigen Elementfabriken unseres Kosmos spielen, so die Forscher. (Nature, 2018; doi: 10.1038/s41586-018-0400-z)
(DOE/Thomas Jefferson National Accelerator Facility, 14.08.2018 – NPO)