Bei Nebel überschätzen Autofahrer ihre eigene Geschwindigkeit und fahren dadurch instinktiv langsamer. Das haben jetzt Forscher vom Max-Planck-Institut für Kybernetik in Tübingen gezeigt. Das Ergebnis sei überraschend, kommentiert das Team, denn frühere Studien hätten gezeigt, dass die Geschwindigkeit bei schlechten Sichtverhältnissen eher unterschätzt werde. Damit habe man bisher erklärt, warum viele Autofahrer trotz Nebel übermäßig schnell unterwegs seien. Tatsächlich gilt dieser Zusammenhang jedoch nur dann, wenn das Sichtfeld gleichmäßig eingeschränkt ist, wie etwa im Fall einer beschlagenen Frontscheibe. Bei Nebel bleibt die Sicht am Rand des Gesichtsfelds dagegen scharf und nimmt zur Mitte hin ab, was vom Gehirn offenbar völlig anders bewertet wird, schreiben Paolo Pretto und seine Kollegen im Online-Fachmagazin „eLife“.
Bisher galt die These: Wenn der Kontrast beim Sehen reduziert wird, nimmt die gefühlte Geschwindigkeit der eigenen Fortbewegung ab – und man gibt Gas, um diese scheinbare Verlangsamung auszugleichen. Allerdings: Die Ergebnisse, die die Basis dieser Annahme sind, stammten alle aus dem Labor und aus Versuchen, deren Bedingungen nicht wirklich der Realität entsprächen, monieren die Tübinger Forscher. Das größte Problem dabei: Es werde grundsätzlich mit Sichtverhältnissen gearbeitet, bei denen der Kontrast im gesamten Gesichtsfeld gleichmäßig reduziert ist. Bei echtem Nebel ist der Kontrast dagegen entfernungsabhängig. Die Bereiche in der direkten Umgebung erscheinen weiterhin scharf, während alles, was weiter weg ist, nur noch unklar zu erkennen ist. Je größer dabei die Entfernung, desto geringer der Kontrast.
Nebelfahrten im Fahrsimulator
Dieser Unterschied könnte für das Gehirn eine große Rolle spielen, mutmaßten die Forscher. Um das zu prüfen, ließen sie insgesamt 32 geübte Autofahrer in einem Fahrsimulator unter verschiedenen Sichtverhältnissen fahren. Es gab zwei Testsituationen: Die Probanden sollten entweder die gefühlte Geschwindigkeit bei zwei Fahrten miteinander vergleichen oder aber selbst versuchen, eine bestimmte Zielgeschwindigkeit einzuhalten.
Wie erwartet, führte eine gleichmäßig getrübte Sicht tatsächlich zum Unterschätzen der eigenen Geschwindigkeit. Waren die Probanden mit 65 Kilometern pro Stunde unterwegs, kam es ihnen so vor, als würden sie nicht mehr als 41 Kilometer pro Stunde fahren. Folglich gaben sie unter solchen Bedingungen ordentlich Gas, so dass sie beispielsweise statt der geforderten 85 Kilometer pro Stunde auf 93 oder, bei stärkerer Eintrübung, sogar auf 103 km/h kamen, ohne es zu merken. Simulierten die Wissenschaftler dagegen die Sichtverhältnisse bei Nebel, indem sie nur die Mitte des Gesichtsfeldes unscharf machten, kehrten sich die Ergebnisse um: Nun empfanden die Teilnehmer die realen 65 Kilometer pro Stunde wie rasante 94 km/h. Und statt der geforderten 85 fuhren sie im zweiten Test lediglich 70.
Es kommt aufs Verhältnis an
Entscheidend für die gefühlte Geschwindigkeit scheine demnach nicht zu sein, wie stark der Kontrast insgesamt reduziert werde, sondern wo diese Reduktion stattfinde, schlussfolgern die Forscher. So ist bei Nebel der Rand des Gesichtsfeldes scharf – die eigene Geschwindigkeit kann in diesem Bereich relativ realistisch eingeschätzt werden. Zur Mitte hin wird die Sicht jedoch unschärfer, während sich gleichzeitig die Geschwindigkeit dort zu reduzieren scheint. Aus diesem Verhältnis errechnet das Gehirn dann offenbar die endgültige gefühlte Geschwindigkeit.
Dass sie mit diesem Modell richtig lagen, konnten die Forscher in einem weiteren Experiment zeigen: Sie erzeugten eine Art Anti-Nebel, also ein Szenario, in dem nur das Gebiet direkt vor den Probanden unscharf, alles weiter weg liegende jedoch sehr scharf wirkte. Unter diesen Bedingungen kehrte sich auch der Geschwindigkeitseffekt wieder um: Die Probanden begannen wieder, ihre eigene Geschwindigkeit drastisch zu unterschätzen – und viel schneller zu fahren, als sie sollten. Die Ergebnisse helfen zum einen, das Sehsystem des Menschen besser zu verstehen, sagen die Froscher. Und zum anderen könnten helfen, bessere Leitsysteme für schlechte Sichtverhältnisse zu schaffen. (doi: 10.7554/eLife.00031)
(eLife, 02.11.2012 – NPO)