In nur einem Bogen über das Meer
Nicht so bei da Vinci: Er schickte dem Sultan einen Brief, in dem er seine Version der gewünschten Brücke beschrieb – eine Konstruktion, die den Meeresarm in einem einzigen Bogen überspannen sollte. Eine Zeichnung dieses Entwurfs ist in einem seiner Notizbücher erhalten. „Das ist unglaublich ehrgeizig“, sagt Karly Bast vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). „Sie war rund zehnmal länger als die typischen Einbogenbrücken jener Zeit.“
Möglich wurde dies, weil da Vinci statt der herkömmlichen Halbkreisbögen einen langgestreckten, abgeflachten Bogen als Grundform nutzte. Zudem plante er, die beiden Enden der Brücke mit massiven, sich V-förmig verzweigenden Pfeilern an den Ufern zu verankern. Dass diese Konstruktionsform zumindest mit modernen Materialien durchaus tragfähig ist, belegt eine 2001 nach Leonardos Vorbild erbaute 110 Meter lange Fußgängerbrücke nahe Oslo.
Nachbau im Maßstab 1:500
Doch hätte da Vincis Brücke auch mit historischen Materialien gehalten? Hätte sie das Goldene Horn überspannenn können? Das haben nun Bast und ihre Kollegen genauer erforscht. Dafür untersuchten sie zunächst, welches Material für die Konstruktion geeignet wäre, denn da Vinci machte dazu keine näheren Angaben. Wie sie in statischen Berechnungen ermittelten, kam nur Stein als Baumaterial in Frage, Holz oder Ziegel hätten die Last nicht tragen können. Mithilfe eines 3D-Druckers produzierten sie daher im Maßstab 1:500 verkleinerte Blöcke, deren Masse und Stabilität proportional zu den originalgroßen Steinblöcken waren.

Übertragung von da Vincis Entwurf in Vorlagen für das verkleinerte Modell. © Karly Bast and Michelle Xie
Wie beim Brückenbau der damaligen Zeit üblich, fügten die Forscher ihre Blöcke zunächst mithilfe eines Stützgerüsts zusammen. Als letztes setzten sie den Schlussstein am höchsten Punkt des Bogens ein. „Das war ein kritischer Moment und wir mussten den Stein richtig hineinpressen“, berichtet Bast. Doch dann war der Bogen vollendet – und Leonardos Konstruktion blieb auch nach Entfernen des Gerüsts stabil.
„Die Steine werden dabei allein durch die Kompression zusammengehalten“, so Bast. „Es ist die Kraft der Geometrie, die das Ganze funktionieren lässt.“
Stabil selbst bei Wind und Erdbeben
Nach Ansicht der Forscher wäre Leonardos Brücke auch in ihrer Originalgröße stabil gewesen. Tests und Modellrechnungen ergaben, dass die Bogenform und vor allem die dicken, zweiteiligen Uferpfeiler selbst Wind standgehalten hätten. Sogar ein leichteres Erdbeben hätte der Brücke wahrscheinlich nichts anhaben können: Das Brückenmodell blieb auch dann stabil, als Bast und ihr Team die beiden Brückenköpfe seitlich hin und herbewegten.
„Dies ist ein wirklich starkes Konzept. Es ist gut durchdacht“, sagt Bast. „Da Vinci wusste, wie die physikalische Welt funktioniert.“ Ihrer Ansicht nach war da Vincis Brückenentwurf daher weit mehr als nur eine flüchtig hingekritzelte Idee. Sultan Bayezid II. allerdings war vor gut 500 Jahren anderer Meinung: Er hielt den Entwurf für so utopisch und gewagt, dass er sich für eine andere, herkömmlichere Konstruktion entschied.
Quelle: Massachusetts Institute of Technology
14. Oktober 2019
- Nadja Podbregar