Glas mal anders: Wenn sich Bakterien unter kontrollierten Bedingungen stark vermehren und dadurch dicht gepackt vorliegen, können sie sich irgendwann kaum noch bewegen und erstarren. Wie Forschende jetzt herausgefunden haben, entsteht durch dieses Erstarren ein besonderer Feststoff, der kolloidem Glas ähnelt. In Zukunft könnten auf Basis dieses Phänomens neuartige Materialien entwickelt werden, wie das Forschungsteam berichtet.
Wenn wir in unserem Alltag von Glas sprechen, meinen wir meist Fensterscheiben, Spiegel oder Getränke- beziehungsweise Brillengläser. Chemisch betrachtet ist Glas jedoch ein Materialzustand zwischen Feststoff und Flüssigkeit, der von vielerlei Substanzen angenommen werden kann – nicht nur von Quarzsand und Co. wie im Falle der Gläser unseres Alltags. Von außen betrachtet wirkt Glas fest, doch in seinem Inneren „fließt“ dieses amorphe, erstarrte Gebilde, weil es anders als die meisten Feststoffe nicht von einem kristallinen Gitter gestützt wird.
Dieser Definition folgend kann zum Beispiel auch eintrocknende Tinte einen glasartigen Zustand annehmen. Da es sich bei Tinte um eine kolloide Flüssigkeit mit schwebenden Partikeln – den winzigen Tintenbläschen – handelt, deren Bewegungsfreiheit durch das Eintrocknen stark eingeschränkt wird, spricht man auch von kolloidem Glas.
Bakterien in Massenhaltung…
Doch womöglich sind „tote“ Materialien wie Tinte nicht die einzigen Kandidaten für kolloides Glas: Bereits vor über zehn Jahren konnte Kazumasa Takeuchi von der Universität Tokio in einem Experiment beobachten, wie sich Bakterienpopulationen mit zunehmender Dichte auf einmal nicht mehr bewegten und damit zumindest auf den ersten Blick glasähnlich erstarrt erschienen.
Nun ist Takeuchi dem Phänomen zusammen mit seinem Kollegen Hisay Lama und weiteren Wissenschaftlern genauer auf den Grund gegangen. Dafür beobachteten sie unter dem Mikroskop, wie sich eine Population von Escherichia-coli-Bakterien innerhalb von sechs Stunden stark vermehrte und dadurch in ihrem Gefäß immer enger zusammenrückte. Indem die Forschenden die Bewegungsmuster der Einzeller analysierten, konnten sie ermitteln, ob es sich bei dem Phänomen tatsächlich um eine typische Verglasung handelt.
… werden zu Glas?
Das Ergebnis: Die E. coli-Bakterien wurden mit zunehmender Populationsdichte immer enger von ihren Nachbarn eingeschlossen, bis sie schließlich nicht mehr frei schwimmen konnten und praktisch erstarrten. Und dieser Erstarrungsprozess ähnelte tatsächlich in vielerlei Hinsicht der typischen Verglasung „toter“ Substanzen, wie Lama und seine Kollegen berichten. So verlangsamten die Einzeller ihre Bewegung zum Beispiel sehr rasch. Einige machten außerdem manchmal einen Satz nach vorne, bevor sie wieder einengt wurden. Man spricht auch vom für Verglasungen typischen Käfigeffekt.
Um allerdings wirklich als Glas oder zumindest als kolloides Glas durchzugehen, reichen diese Übereinstimmungen im Bewegungsmuster der Bakterien noch nicht ganz aus. So bilden sie zum Beispiel für glasartige Substanzen untypische „Mikrodomänen“, in denen sich Gruppen von Bakterien auf die gleiche Weise ausrichten und teilweise kollektiv bewegen. Darin ähneln sie eher den regelmäßigen Mustern anorganischer Kristalle als der amorphen Struktur von Glas.
Begrifflich lassen sich dicht gepackte E. coli-Bakterien somit zwar nicht als kolloides Glas einordnen, dafür aber als Feststoff, der kolloidem Glas stark ähnelt, wie Lama und seine Kollegen erklären.
Mögliche Grundlage für neue Materialien
Die neuentdeckte Eigenheit dieser Bakterien könnte nun einen ganz praktischen Nutzen haben. Beispielsweise kann sie neue Möglichkeiten eröffnen, hartnäckige bakterielle Biofilme zu bekämpfen, die schädliche Belege auf unseren Zähnen und anderen Körperstellen bilden.
Aber auch für die Materialforschung sind die Experimente des Forschungsteams von großem Interesse, wie Takeuchi erklärt: „Ansammlungen von ‚selbstangetriebenen Partikeln‘, wie wir sie hier sehen, werden seit kurzem als eine neue Art von Material betrachtet, das als aktive Materie bezeichnet wird und großes Potenzial aufweist. Langfristig könnten unsere Ergebnisse dazu beitragen, neuartige Materialien mit Funktionen zu entwickeln, die mit herkömmlichen Materialien nicht möglich sind.“
In einem nächsten Schritt möchten Lama und sein Team nun herausfinden, ob andere Bakterienspezies verglasen können und wie dieser Prozess in unterschiedlichen Umgebungen abläuft. (PNAS Nexus, 2024; doi: 10.1093/pnasnexus/pgae238)
Quelle: University of Tokyo