Überraschende Entdeckung: Rund ein Viertel aller bekannten Feststoffe zeigt ein exotisches elektrisches Verhalten – weit mehr als gedacht. Demnach sind solche topologischen Materialien keineswegs seltene Exoten, sondern vielmehr eine durchaus gängige Spielart der Natur, wie der erste Katalog dieser Stoffe nun enthüllt. Diese Erkenntnis könnte eine ganz neue Ära der Materialforschung einläuten, so die Forscher im Fachmagazin „Nature“.
Sie galten bisher als die absoluten Ausnahmen unter den kristallinen Materialien: Substanzen, die bei ultrakalten Temperaturen oder in ultradünnen Schichten plötzlich einen exotischen Zustand einnehmen. Einige werden zum Supraleiter und lassen Elektronen widerstandsfrei passieren. Andere, wie Helium-4, werden zum Superfluid – reibungslosen Flüssigkeiten, die Wände hochfließen kann und unendlich rotierende Wirbel bildet.
Nur vereinzelte Exoten?
Was es mit diesem Phänomen auf sich hat, haben Forscher erst im Laufe der letzten gut 30 Jahre enträtselt. 2016 bekamen drei britische Physiker für die Erforschung dieser sogenannten topologischen Materialien den Physiknobelpreis. Inzwischen ist bekannt, dass die ungewöhnlichen Eigenheiten dieser Stoffe auf eine komplexe Wechselwirkung ihrer Atomstruktur, der Symmetrie im Kristall und dem Elektronenverhalten zurückgeht.
Doch wie viele topologische Materialien es in der Natur gibt, war bisher unbekannt. „Die gängige Annahme war jedoch, dass diese Stoffe nur einen winzigen Teil aller natürlichen Materialien ausmachen“, erklären Zhijun Wang von der Princeton University und sein Team. Unter den gut 100.000 bekannten anorganischen Feststoffen waren nur ein paar hundert solcher Exoten bekannt, bei Übergangsmetallen sogar nur 20.
27 Prozent aller Materialien sind topologisch
„Das Problem war, dass bisher das Bindeglied zwischen den chemischen Eigenschaften eines Materials und seinen topologischen Merkmalen fehlte“, erklären die Forscher. Erst in jüngster Zeit haben Physiker diese Zusammenhänge entschlüsselt – und so den Weg freigenmacht für eine systematische Fahndung nach topologischen Materialien in der Natur. Für ihre Studie haben Wang und sein Team spezielle Algorithmen entwickelt, die gezielt nach Indizien für topologische Eigenschaften bei rund 26.000 anorganischen Materialien suchten.
Das überraschende Ergebnis: „Mehr als ein Viertel aller Materialien zeigt eine Form der Topologie“, berichtet Seniorautor Andrei Bernevig von der Princeton University. „Dieses Resultat ist verblüffend. Denn Topologie ist demnach nicht esoterisch und exotisch, sondern nahezu allgegenwärtig.“ Konkret identifizierten die Forscher mehr als 3.000 topologische Nichtleiter und gut 4.000 topologische Halbmetalle.
„Periodensystem“ auf neue Art
Unter den neuentdeckten topologischen Materialien sind einige für ihre Supraleitung bekannte Cuprate, aber auch verschiedenste andere Verbindungen. Sogar die Elemente Arsen und Gold zeigen topologische Züge, wie die Forscher berichten. „Eine Vielzahl der bekannten Materialeigenschaften – wie die Farbe des Goldes – kann durch den topologischen Ansatz erklärt werden“, sagt Koautorin Claudia Felser vom Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe.
Wer selbst nachschauen will, welche Elemente in welchen Kombinationen topologisch werden, kann dies auf einer von den Forschern konzipierten interaktiven Website tun. Ausgehend von einem Periodensystem lassen sich hier alle bisher bekannt topologischen Materialien abfragen. „Das ist der Beginn einer ganz neuen Art des Periodensystems, bei dem Elemente und Verbindungen nach ihren topologischen Eigenschaften indiziert werden statt nach herkömmlichen“, sagt Wangs Kollege Andrei Bernevig.
„Neue Ära der Materialforschung“
Wegen ihrer elektronischen Eigenschaften eröffnen die topologischen Materialien ganz neue Möglichkeiten für technische und wissenschaftliche Anwendungen. Die Neuentdeckungen könnten beispielsweise die Suche nach neuen Hochtemperatur-Supraleitern vorantreiben und so die verlustfreie Stromleitung ermöglichen. Aber auch künftige Quantencomputer könnten von den neuen Materialien profitieren.
„Wenn unser Katalog vollständig ist, wird er eine ganz neue Ära der topologischen ‚Materialentwicklung einläuten“, sagt Bernevig. (Nature, 2019; doi: 10.1038/s41586-019-0954-4)
Quelle: Princeton University